Donnerstag, 14. November 2013

Auszeit in Berlin


In dieser unerträglichen Situation lud Anna Koppe, eine Freundin Elisabeths, sie in ihre Wohnung nach Berlin [Kochstraße] ein. Dort könnte sie eine Zeit verbringen und Abstand gewinnen. Sie nahm das Angebot an.
Schon während der Fahrt in der Eisenbahn spürte sie, wie sie freier atmen konnte. Als dann die Gastgeberin ihr ein herzliches Willkommen bereitete und sie sich zusammen mit deren Freunden frei austauschen konnte, wurde ihr wieder einmal bewusst, dass es noch etwas anderes gab, als die drückende Enge in Residenz und Elternhaus.
In den Straßen von Berlin war sie unterwegs auf den Spuren der politischen Entwicklungen nach den Ereignissen im März 1848. Die von den jeweiligen Herrschenden der deutschen Länder zum Teil hastig gemachten Zugeständnisse schwammen nach und nach davon. Nach dem Septemberaufstand in Frankfurt und der Oktoberrevolution in Wien hatten Österreich und Preußen mit militärischer Gewalt die Ruhe wieder hergestellt.
Auch in Berlin war es unruhig, erwartete man doch von der Regierung und der preußischen Nationalversammlung, dass sie die Arbeit im Frankfurter Parlament unterstützten und Verordnungen im Sinne der Märzforderungen auf den Weg brachten. Doch die Unterstützer waren in der Minderheit. Einer von ihnen ging bei Anna Koppe ein und aus. Voller Sorge berichtete er, dass der preußische König alles daran setze, um seine alte Macht wieder zu festigen. So hatte er bestimmt, dass der Landtag nicht mehr im Schauspielhaus in der Charlottenstraße tagen sollte, sondern in der Stadt Brandenburg, was einer Auflösung gleich kam. Malwida und Anna waren dabei, als sich eine große Menschenmenge auf dem Gendarmenmarkt versammelte, um gegen diese Maßnahme zu demonstrieren. Sie erlebten, wie Soldaten unter Oberbefehl von General von Wrangel mit Waffengewalt den Platz räumten.
Drei Tage später, am 12. November 1848, unterschrieb der Oberbefehlshaber der Truppen den Erlass zur Verhängung des Belagerungszustandes in Berlin. Angesichts dieser undurchsichtigen Situation die Stadt riet Anna ihrer Freundin, die Stadt auf schnellstem Wege zu verlassen. Sie begleitete Malwida zum Bahnhof, wo sich schon Massen von Ausreisenden unter militärischer Bewachung versammelt hatten, um einen Platz zu ergattern. Wegen eines Sabotageaktes an den Gleisen kam der Zug nur bis Potsdam. Auch dort war wieder dichtes Gedränge auf dem Bahnhof. Malwida stand mitten darin und war dankbar, als ein junger Offizier, der sie von einer Festveranstaltung kannte, ihr seine Hilfe anbot. Von ihm ließ sie sich zum Haus von Theodors Großvater Dräseke bringen, der sich nach seiner Magdeburger Bischofszeit in Potsdam zur Ruhe gesetzt hatte. Obwohl es sehr spät war, wurde sie von Bischof Dräseke und zwei seiner Töchter herzlich aufgenommen.
Als sie eines Tages in diesem unruhigen November 1848 erfuhr, dass Robert Blum in Wien kurzerhand mit den Gewehren hingerichtet worden war und dass Theodors Freund Julius Fröbel, der ebenfalls den Wiener Aufstand unterstützt hatte, das gleiche Schicksal drohte, war sie zutiefst schockiert. Ihr wurde klar, wie stark die Reaktion in Deutschland inzwischen geworden war.
Dennoch endete das Jahr in Frankfurt mit einem großen Erfolg. Die vom deutschen Volk gewählten Delegierten in der Paulskirche hatten beharrlich an ihrer Aufgabe gearbeitet  und den ersten Teil ihres Werkes fertig gestellt. Am 21. Dezember 1848 wurden auf Beschluss der Reichsversammlung die „Grundrechte des deutschen Volkes“ als Gesetz verkündet. Mit großer Freude wurde dieses Ereignis in der gesamten Bevölkerung aufgenommen. Der Text wurde in großen Mengen gedruckt und in ganz Deutschland an die Menschen verteilt.
Schon bald war das schön gestaltete Plakat mit den neun Artikeln auch in Detmold überall an den Wänden angeschlagen, selbst in den kleinsten Hütten. Malwida versorgte ihre Armen und freute sich an der Hoffnung, die in die Herzen gesät wurde.
Besonders freute sie sich am Artikel VI, in dessen Paragraphen es um Wissenschaft und Lehre ging. Nicht nur privilegierten, sondern allen Menschen sollte Bildung zugänglich sein und zuteil werden. Alle Kinder und Jugendlichen sollten in öffentlichen Schulen unterrichtet werden, egal ob arm oder reich, ob männlich oder weiblich. Malwida konnte sich gar nicht satt sehen an den Formulierungen dieses Artikels und hoffte, in irgendeiner Form an der Verwirklichung dieser schönen Paragraphen mitwirken zu können. Im Vordergrund stand vor allem der Gedanke an Chancengleichheit von Männern und Frauen.

Am letzten Tag des Jahres gab es wieder ein unerwartetes Zusammentreffen mit Theodor. Es fand statt im Pfarrhaus unter der Wehme und hatte einen traurigen Anlass. Theodors Mutter Julie Althaus war im Alter von fünfzig Jahren gestorben. Der älteste Sohn war zur Beerdigung für ein paar Stunden angereist aus Hannover, wohin er erst einige Tage zuvor seine Redaktion verlegt hatte. Nach der Beerdigung begleitete er Malwida ein Stück. Sie redeten über den  bitteren Verlust, den der Tod der Mutter für den jungen Redakteur und auch für Malwida bedeutete, und über seine „Zeitung für Norddeutschland“, deren erste Ausgabe am 1. Januar 1849 er gerade vorbereitete. Er war freundlich, jedoch distanziert. Sie nahm sich vor, auch weiterhin seine Leitartikel zu lesen. 

(1848)

Leseprobe aus:

Foto: © Renate Hupfeld 

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