In dieser unerträglichen
Situation lud Anna Koppe, eine Freundin Elisabeths, sie in ihre Wohnung nach
Berlin [Kochstraße] ein. Dort könnte sie eine Zeit verbringen und Abstand gewinnen. Sie nahm
das Angebot an.
Schon während der
Fahrt in der Eisenbahn spürte sie, wie sie freier atmen konnte. Als dann die
Gastgeberin ihr ein herzliches Willkommen bereitete und sie sich zusammen mit
deren Freunden frei austauschen konnte, wurde ihr wieder einmal bewusst, dass
es noch etwas anderes gab, als die drückende Enge in Residenz und Elternhaus.
In den Straßen von
Berlin war sie unterwegs auf den Spuren der politischen Entwicklungen nach den
Ereignissen im März 1848. Die von den jeweiligen Herrschenden der deutschen
Länder zum Teil hastig gemachten Zugeständnisse schwammen nach und nach davon.
Nach dem Septemberaufstand in Frankfurt und der Oktoberrevolution in Wien hatten
Österreich und Preußen mit militärischer Gewalt die Ruhe wieder hergestellt.
Auch in Berlin war
es unruhig, erwartete man doch von der Regierung und der preußischen
Nationalversammlung, dass sie die Arbeit im Frankfurter Parlament unterstützten
und Verordnungen im Sinne der Märzforderungen auf den Weg brachten. Doch die
Unterstützer waren in der Minderheit. Einer von ihnen ging bei Anna Koppe ein
und aus. Voller Sorge berichtete er, dass der preußische König alles daran
setze, um seine alte Macht wieder zu festigen. So hatte er bestimmt, dass der
Landtag nicht mehr im Schauspielhaus in der Charlottenstraße tagen sollte,
sondern in der Stadt Brandenburg, was einer Auflösung gleich kam. Malwida und
Anna waren dabei, als sich eine große Menschenmenge auf dem Gendarmenmarkt
versammelte, um gegen diese Maßnahme zu demonstrieren. Sie erlebten, wie
Soldaten unter Oberbefehl von General von Wrangel mit Waffengewalt den Platz
räumten.
Drei Tage später,
am 12. November 1848, unterschrieb der Oberbefehlshaber der Truppen den Erlass
zur Verhängung des Belagerungszustandes in Berlin. Angesichts dieser
undurchsichtigen Situation die Stadt riet Anna ihrer Freundin, die Stadt auf schnellstem
Wege zu verlassen. Sie begleitete Malwida zum Bahnhof, wo sich schon Massen von
Ausreisenden unter militärischer Bewachung versammelt hatten, um einen Platz zu
ergattern. Wegen eines Sabotageaktes an den Gleisen kam der Zug nur bis
Potsdam. Auch dort war wieder dichtes Gedränge auf dem Bahnhof. Malwida stand
mitten darin und war dankbar, als ein junger Offizier, der sie von einer
Festveranstaltung kannte, ihr seine Hilfe anbot. Von ihm ließ sie sich zum Haus
von Theodors Großvater Dräseke bringen, der sich nach seiner Magdeburger
Bischofszeit in Potsdam zur Ruhe gesetzt hatte. Obwohl es sehr spät war, wurde
sie von Bischof Dräseke und zwei seiner Töchter herzlich aufgenommen.
Als sie eines Tages
in diesem unruhigen November 1848 erfuhr, dass Robert Blum in Wien kurzerhand
mit den Gewehren hingerichtet worden war und dass Theodors Freund Julius
Fröbel, der ebenfalls den Wiener Aufstand unterstützt hatte, das gleiche
Schicksal drohte, war sie zutiefst schockiert. Ihr wurde klar, wie stark die
Reaktion in Deutschland inzwischen geworden war.
Dennoch endete das
Jahr in Frankfurt mit einem großen Erfolg. Die vom deutschen Volk gewählten
Delegierten in der Paulskirche hatten beharrlich an ihrer Aufgabe
gearbeitet und den ersten Teil ihres
Werkes fertig gestellt. Am 21. Dezember 1848 wurden auf Beschluss der
Reichsversammlung die „Grundrechte des deutschen Volkes“ als Gesetz verkündet. Mit
großer Freude wurde dieses Ereignis in der gesamten Bevölkerung aufgenommen. Der
Text wurde in großen Mengen gedruckt und in ganz Deutschland an die Menschen
verteilt.
Schon bald war das
schön gestaltete Plakat mit den neun Artikeln auch in Detmold überall an den
Wänden angeschlagen, selbst in den kleinsten Hütten. Malwida versorgte ihre Armen
und freute sich an der Hoffnung, die in die Herzen gesät wurde.
Besonders freute
sie sich am Artikel VI, in dessen Paragraphen es um Wissenschaft und Lehre
ging. Nicht nur privilegierten, sondern allen Menschen sollte Bildung
zugänglich sein und zuteil werden. Alle Kinder und Jugendlichen sollten in
öffentlichen Schulen unterrichtet werden, egal ob arm oder reich, ob männlich
oder weiblich. Malwida konnte sich gar nicht satt sehen an den Formulierungen
dieses Artikels und hoffte, in irgendeiner Form an der Verwirklichung dieser
schönen Paragraphen mitwirken zu können. Im Vordergrund stand vor allem der
Gedanke an Chancengleichheit von Männern und Frauen.
Am letzten Tag des
Jahres gab es wieder ein unerwartetes Zusammentreffen mit Theodor. Es fand
statt im Pfarrhaus unter der Wehme und hatte einen traurigen Anlass. Theodors
Mutter Julie Althaus war im Alter von fünfzig Jahren gestorben. Der älteste
Sohn war zur Beerdigung für ein paar Stunden angereist aus Hannover, wohin er erst
einige Tage zuvor seine Redaktion verlegt hatte. Nach der Beerdigung begleitete
er Malwida ein Stück. Sie redeten über den
bitteren Verlust, den der Tod der Mutter für den jungen Redakteur und
auch für Malwida bedeutete, und über seine „Zeitung für Norddeutschland“, deren
erste Ausgabe am 1. Januar 1849 er gerade vorbereitete. Er war freundlich,
jedoch distanziert. Sie nahm sich vor, auch weiterhin seine Leitartikel zu
lesen.
(1848)
Leseprobe aus:
Foto: © Renate Hupfeld
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