Mittwoch, 20. Juni 2018

La Grande Chartreuse




aus: Malwida von Meysenbug, "Die Malerei war immer meine liebste Kunst"


(Ausflug zum Kartäuserkloster bei Grenoble  - Mai 1845)

Nach einer Übernachtung in Grenoble hatte Malwida von Meysenbug Gelegenheit, das Gelübde an den Weltgeist zu bestätigen. Zusammen mit Herrn Ludwig und den beiden Jungen ließ sie sich mit der Kutsche in ein nahe gelegenes Dorf bringen. Von dort aus wagte sie sich auf einem Mautier an den Aufstieg zum Karthäuserkloster hoch oben im Gebirge. Geführt wurde die Gruppe von einem kundigen Manne. Hätte sie gedacht, was auf sie zukam? Zwischen riesigen Felswänden durchquerten sie eine Schlucht, in deren Tiefe ein reißendes Gewässer tobte. Immer enger wurde der Pfad und immer bedrohlicher der Abgrund. Irgendwann befanden sie sich wohl oberhalb der Vegetationsgrenze, wo nichts mehr zu leben schien. Todestor nannte man den Durchbruch im Felsen, den sie passieren mussten. In dieser schauerlichen Szenerie fühlte sich Malwida sich an Dantes Höllentor erinnert und war dann ganz erstaunt, als sie in ungefähr 2000 Metern Höhe zu Füßen des Bergmassivs eine Ebene in üppigem Grün erreichten. Hier wuchsen prächtige Bäume und Blumen in den schönsten Farben.

Am Eingang der Klosteranlage wurden sie von zwei Laienbrüdern empfangen. Ohne ein Wort zu wechseln, nahm der eine den Bergführer zur Seite und brachte zusammen mit ihm die Maultiere in einen Stall. Der andere Klostermann stand da und schwieg. Die Kutte hing über seinen leicht nach vorne gebeugten Schultern und fiel ihm bis auf die Sandalen. Ein dicker Hornknopf hielt das etwas dünnere Leinenhemd darunter zusammen. Nichts an dieser Kleidung und der Art, wie er sie trug, vermittelte den Eindruck, als würde sie ihn einengen, auch nicht die Kapuze, obwohl sie Hals und Nacken schwer umschloss. Sah so jemand aus, der am Ende eines steinigen Weges die Wahrheit gefunden hatte? Die Wahrheit, nach der zu streben sie gerade einen Tag zuvor auf der steilen, vereisten Passstraße gelobt hatte? Das Hell und Dunkel seines Gesichtes diesseits und jenseits der scharfen Trennlinie über Stirn, Nase und Mund, vermittelten den Eindruck einer unerschütterlichen Gelassenheit. Es war eine andere Art von Gelassenheit, die dieser Mann ausstrahlte. Sie gehörte ebenso hierher wie der gefährliche Pfad zwischen schroffen Felsen und Abgründen, wie das Höllentor, wie die fruchtbare Ebene und der in der Abendsonne leuchtende Felsgipfel.

Es mochte eine Stunde vergangen sein, vielleicht weniger, vielleicht mehr. Der große Schweiger hatte Herrn Ludwig zum Eingangsportal des Klosters gebracht, sie und die Jungen in das kleine Holzhaus geführt, wo er sie mit Brot, Butter und Tee bewirtet hatte. Nun stand er in diesem winzigen Raum ihr gegenüber und nickte, unentwegt lächelnd. Sein Schweigen konnte sie kaum ertragen. Noch keinen Laut hatte sie aus seinem Munde gehört. Selbst sein Blick wirkte stumm. Nicht die kleinste Bewegung der Kutte. Doch was hatte sie erwartet? Befolgte er doch nur die Regel, die ihr allerdings bis vor ein paar Minuten unbekannt gewesen war. Sie durfte das Innere des Klosters nicht betreten. Das durften nur Männer. Ihr war nun dieses winzige Domizil zugewiesen. Es war alles da, was sie für einen Abend und eine Nacht brauchte: Bett, Stuhl und Waschtisch, auch was sie nicht brauchte: Betbank, Kruzifix und Weihwasserbecken. Sie nickte und versuchte den Schweiger dabei anzulächeln. Ein aufgesetztes Lächeln, doch das merkte er nicht. Er hatte aber verstanden, dass sie nun allein sein wollte. Mit einer höflichen Verbeugung drehte er sich um und ging hinaus, wobei jeder Schritt auf knarrenden Dielen und Treppenstufen in dem Holzhaus nachhallte.
Müde vor Enttäuschung ließ sie sich auf den Stuhl fallen. Unten räumte der Laienbruder das Essgeschirr vom Tisch, wusch es ab und stellte Stück für Stück in den Schrank. Das konnte sie nicht sehen, jedoch hören und sich vorstellen. Nach getaner Arbeit verließ er das Haus, schob den Schlüssel in das Schloss und drehte ihn herum. Dann schlurfte er davon, zu den anderen Klostermännern, die ihr schweigsames Leben ihrem Gott gewidmet hatten. Dort befand sich auch der Besucher für einen Abend und eine Nacht, mit dem zusammen sie die Gebirgstour von Grenoble aus hier hinauf gemacht hatte und der nun dieses Vorrecht genoss.

Malwida zog ihr Skizzenbuch aus der Tasche und legte es sich auf die Knie. Mit den Augen verfolgte sie die Windungen des marmorierten Musters auf der Vorderseite. Dann zeichnete sie die Linien mit dem Finger nach. Das leise Wischgeräusch bei der Berührung mit der rauen Pappe dämpfte die innere Unruhe. Sie begann immer wieder von vorne, während sich langsam ihre Gedanken ordneten. Sie öffnete das Fenster und schob die beiden Flügel beiseite. Hinter den Mauern die Gemeinschaft der Männer und sie hier außerhalb der klösterlichen Festung als stille Beobachterin, allein mit ihrem marmorierten Skizzenbuch, das nun aufgeschlagen vor ihr auf der Fensterbank lag. Weich flossen ihre langen Haare über Schultern und Rücken, als sie das Band löste. Dann zeichnete sie, was der Bildausschnitt auf die große Kartause freigab. In der Mitte das Haus mit dem bogenförmigen Eingangsportal, das sie nicht betreten durfte. Hinter hohen Mauern die sichtbaren Teile von Gebäuden mit Fenstern, Dächern und Türmen.
Als die Dämmerung eintrat, war sie mit ihrem Stift längst hoch oben auf dem Bergmassiv angekommen, bei den unzähligen dunklen Tannen, die sich hoch kämpften und unterhalb des Gipfels in einem langen dunklen Saum endeten. Sie zeichnete jede einzelne. Oberhalb schlängelte sich ein Lichtpfad hinauf auf ein silbern strahlendes Plateau, das sie leichten Fußes erreichte. Als sie über die Fläche schwebte, spürte sie ihre Haare und die Schleppe ihres Gewandes frei im Lufthauch wehen. Ein heller Glockenton, ein weiterer und noch einer setzten die Silberstrahlen in tausend und abertausend Schwingungen. Als die Glocke verklungen war, intonierten Stimmen einen Gesang, der ihr nicht fremd war. Als hätte sie Worte und Melodie immer schon gesungen und würde nie damit aufhören, stimmte sie mit ein: Ich zögere nicht, gehe den einsamen Pfad, den jeder geht, der die Wahrheit sucht.
Als dicke weiße Flocken vom Himmel herabwirbelten, sich auf ihrem Gesicht auflösten und kühle Tropfen auf das dunkle Portal hinunterrollten, klappte sie das Skizzenbuch zu und legte es zur Seite. 

Durch lautes Klopfen und die aufgeregte Stimme des Erziehers wurde sie früh am nächsten Morgen geweckt.
„Mademoiselle von Meysenbug, wachen Sie auf. Es gibt Schwierigkeiten. In der Nacht hat es geschneit und die Sicht ist sehr schlecht.“
„Ich weiß, Herr Ludwig“, rief sie. „Warten Sie unten auf mich. Wir besprechen nachher, was wir tun.“
Sie stand auf und zog sich an. Die Nebelschwaden vor ihrem Fenster versetzten sie keinesfalls in Panik. Ihr war, als wäre alle Schwere von ihr gewichen. Auf der Treppe strömte ihr Kaffeeduft entgegen. Im Essraum hatte der Laienbruder ihnen das Frühstück bereitet, frisches Brot, Butter und Honig. Der Erzieher saß mit den Kindern am Tisch. Alle drei schienen auf sie zu warten.
„Ich habe Angst, Tante Malwida“, jammerte Wilhelm.
„Ich auch“, sagte Alphons, der Ruhige. „Das Höllentor finden wir im Nebel gar nicht mehr und wenn das Maultier ausrutscht, bin ich verloren.“
„Das sagt ihr, denen gestern kein Fels zu steil war?“, entgegnete Malwida, lachend, obwohl sie die Angst der Kinder gut verstehen konnte. Auch ihr lief ein Schauer über den Rücken, wenn sie an den Abstieg dachte. Schon bei gutem Wetter war die Tour voller Gefahren gewesen. Heute würden die schmalen Pfade zudem noch rutschig sein. Sie wollte sich das gar nicht ausdenken.
„Hätten wir das doch nie gemacht! Ich will nach Hause“,  jammerte nun Alphons und nahm den Bruder in den Arm.
Warum hatten sie die Kinder eigentlich in diese Gefahr gebracht, fragte sich Malwida. Dennoch wunderte sie sich, wie ruhig sie blieb. Als hätte ein Hauch von Gelassenheit sie berührt.
„Wie sollen wir hinunter in das Tal kommen?“, wandte jetzt der Erzieher ein. „Ihre Schwägerin wird sich große Sorgen machen, wenn wir nicht gegen Mittag zurück sind in Grenoble.“
„Das wird sie“, entgegnete Malwida. „Doch in dieser Situation ist unsere Sicherheit wichtiger, vor allem die Sicherheit der Kinder.“
Herr Ludwig nickte.
„Wir müssen dem Bergführer und seinen Maultieren vertrauen. Nach dem Frühstück werde ich mit dem Mann reden“, fuhr sie fort, obwohl sie der Meinung war, dass das eigentlich die Aufgabe des begleitenden Herrn war. Doch dessen Kenntnisse der französischen Sprache reichten auch nach einem halben Jahr Aufenthalt in der Provence kaum aus, um diese Angelegenheit zu regeln.
„Herr Ludwig, wie war eigentlich die Nacht im Kloster?“, fragte Alphons und sah seinen Erzieher mit gespannter Erwartung an.
„Ja, erzählen Sie mal“, forderte Wilhelm ihn auf.
„Am Eingang empfing mich ein Laienbruder.“
„Ein anderer?“
„Der führte mich in eine Zelle, ziemlich klein mit einem einfachen Bett.“
„Und Kruzifix und Betbank“, unterbrach der Kleinere ungeduldig. „Und war ein Fenster in der Zelle?“
„Ein kleines.“
„Kruzifix und Betbank?“
„Und ein Blechofen war noch da, den brauchte ich aber nicht. Durch das Fenster konnte ich übrigens in einen kleinen Garten mit Obstbäumen und Gemüsebeeten sehen.“
‚Nichts gesehen hat er’, dachte Malwida.
„Und wie sah es sonst im Kloster aus? War es groß da drinnen?“, fragte Alphons.
„Lange Gänge, viele Zellentüren, ein Kloster eben. Einen Rundgang durfte ich nicht machen. Zumeist hielt ich mich in meiner Zelle auf.“
„Bis jemand Sie abholte?“, wollte Malwida wissen.
„Ja, bis zur Mitternacht die Glocke läutete. Der Laienbruder nahm mich mit in das so genannte Reflektorium.“
„Mitten in der Nacht?“
„Jede Nacht machen sie das, Wilhelm. Das ist die Regel.“
„Jede Nacht in dieses Reflektorium?“, wunderte sich auch der Bruder. „Reflektorium, ein seltsames Wort.“
„Ja, immer dort. Das Reflektorium ist ein großer Raum mit hohen Fenstern. Wie eine Kirche müsst Ihr euch das vorstellen. Lange Betbänke an den zwei Seitenwänden.“
„Und wie viele Klostermänner waren um Mitternacht in diesem Reflektorium?“, setzte der Kleine nach.
„Alle, denke ich. Doch wie überall, wurde auch hier nicht gesprochen. So konnte ich niemanden fragen. Ich schätze, es waren ungefähr siebzig. Einer der Patres stimmte einen Gesang an und der ganze Chor setzte mit ein, Gregorianische Gesänge nennt man das.“
„Haben Sie sich die Texte gemerkt?“, wollte Malwida wissen.
„Texte? So genau weiß ich das nicht mehr.“
„Ach, das haben sie gar nicht gehört?“
„Wichtiger war die Atmosphäre. Die war sehr bewegend.“
Wenn sie jetzt antworten würde, gäbe es wieder ein Streitgespräch mit diesem Mann. Darin sah sie schon längst keinen Sinn mehr. Wahrscheinlich beherrschte Herr Ludwig die lateinische Sprache ebenso wenig wie die französische, dachte sie und ging hinaus.
Draußen war keine Spur mehr von Nebel und Schnee, der Regen hatte nachgelassen und die Sonne blinzelte zwischen den Wolken.
Mit einigen Stunden Verzögerung kamen sie dank der Erfahrung des Bergführers und der unglaublichen Gebirgstauglichkeit seiner Maultiere wohlbehalten unten im Dorf und später in Genoble an, wo Caroline sich schon das Schlimmste ausgemalt hatte und nun sehr erleichtert war.

Die Weiterfahrt in nördliche Richtung führte am 14. Mai 1845 nach Savoyen über Chambéry bis Aix-les-Bains. In der Abenddämmerung saß Malwida  am Ufer des „Lac du Bourget“, der eine seltsam traurige Stimmung mit ihr zu teilen schien. Ihr war, als ob die Sehnsucht sich mit dem leichten Dunst über dem Wasser niederließ und sie träumte sich in die kleine Barke, neben sich den Geliebten, an dessen Schulter sie sich anlehnte. Es war, als würde das kleine Boot zusammen mit ihnen in das Buch schweben, dem sie immer und immer wieder von traurigen und glücklichen Momenten erzählen konnte. Bild und Zeilen dieser einsamen Abendstunde widmete sie ihrem Freund im fernen Detmold, dem sie auf dieser Rückreise täglich ein Stück näher kam.

Als sie am Tag darauf Frankreich verließen und in die Schweiz einreisten, musste sich Malwida auch von ihrer geliebten französischen Sprache verabschieden. Die Gruppe machte Station am See von Neuchâtel und am Bieler See, bevor man auf der Strecke nördlich des Genfer Sees ein letztes Mal über dem gegenüberliegenden Südufer die prächtige Bergkulisse mit schneebedeckten Alpengipfeln bestaunen konnte. Malwida dokumentierte mit dem Bleistift soviel es ging und es entstanden noch ein paar wunderbare Zeichnungen.
Von Solothurn aus ging es zurück nach Deutschland. Caroline fuhr mit Kindern und Bediensteten zu ihrem Mann Friedrich von Meysenbug nach Frankfurt. Malwida nahm das Schiff rheinaufwärts und erreichte am 31. Mai 1845 die Stadt Köln, von wo sie mit der Postkutsche in die lippische Residenzstadt Detmold zurückkehrte.