Auf dem Hügel vor den Toren der Stadt hörte
Malwida die Geräusche der Pferdedroschken und der triumphierenden Soldaten nur
ganz schwach. So ein bisschen klang es
sogar wie leises Meeresrauschen. Ganz entfernt hörte sie eine Nachtigall
und über ihrem Kopf flüsterten die Blätter, als wollten sie die Stille der hier
Ruhenden nicht stören. Sie setzte sich neben eines der Gräber, bewachsen mit
frischgrünem Efeu und atmete tief ein. Weit entfernt erstreckte sich die
preußische Hauptstadt in der weiten Ebene, über der die Sonne langsam
unterging.
Hier fern jeglichen Lärms war sie allein
mit den Toten. So schön ruhig hier. Nur langsam ordnete sich das Chaos in ihrer
Brust. Die unachtsam hin geschleuderten Pfeile trieben immer wieder Tränen in
die Augen, die sie wie einen wohltuenden Schleier empfand. Auf keinen Fall
konnte sie zurück in den Schoß der Familie. Wie stellte William sich das denn
vor? Weibliche Demut? Das ging nicht. Nicht mehr. Auch nicht der Mutter
zuliebe. Sie ließ sich nicht mehr verbieten, ihren Verstand zu gebrauchen. Sie
hatte ihre eigenen Vorstellungen. Und sie hatte ja bereits ihren Weg gefunden,
heraus aus der Enge. Aber das würde William niemals verstehen, obwohl er sie
doch lange genug kannte. Er dachte ja nur an sich und seine Position im
Ministerium. Die demokratische Schwester war ihm peinlich. Was hatte er gesagt?
Teuflischer Verführer? Irrwege? Gescheitert? Sie spürte ihr Herz klopfen. Nein!
nein! Nein! Aus sich selbst heraus hatte sie ihre Überzeugungen. Nicht sie,
sondern William war auf Irrwegen. Er würde scheitern, nicht sie. Wenn du etwas
brauchst, Malwida. Heuchler. Diese Hilfe brauchte sie schon lange nicht mehr. Warum
wollten sie das denn nicht begreifen? Sie fühlte sich zwar schwach, doch das
würde vorübergehen. Niemals würde sie ihre Ideale verraten, ihre Ideen von
einem freien Land mit freien selbstbestimmten Frauen mit denselben Rechten wie Männer
sie haben. Selbst, wenn sie gegen Geflogenheiten und geschriebene und
ungeschriebene Gesetze handelte. Sie musste auf ihre innere Stimme hören. Wie
Antigone. Ja, sie konnte nicht anders handeln, auch nicht der Familie zuliebe.
Wie Antigone.
War ihr jemand gefolgt? Plötzlich kam es
ihr vor, als wäre sie nicht allein. Zwei junge Menschen blickten aus einiger
Entfernung zu ihr hinüber. Wie lange standen sie wohl schon da? Als sie sich
entdeckt sahen, kamen sie ein paar Schritte auf sie zu. Sie stand auf und ging
ihnen entgegen, die beiden kamen auch näher.
„Verzeihen Sie, wenn wir Ihre Ruhe gestört
haben“, sagte der Mann. „Wir haben Sie lange angesehen, wie Sie da so traurig
und gedankenvoll saßen. Sie müssen eine von uns sein.“
Die junge Frau nickte zu seinen Worten.
„Wenn die Arbeit uns mal ein Stündchen Zeit
lässt, kommen wir hierher zu den Gräbern unserer toten Freunde.“
„Kannten Sie viele der jungen Menschen, die
hier begraben sind?“, fragte Malwida.
„Einige aus dem Handwerkerverein und aus
der Fabrik. Dort haben sie gearbeitet wie wir. Carl war erst achtzehn. Und am
achtzehnten März ist er gestorben.“
„So viele sind gestorben. Auch ich war einige Male hier“, sagte Malwida. „In Anwesenheit der Toten finde ich Trost.“
„Sie haben auch jemanden zu betrauern. Das sehe ich Ihnen doch an“, sagte die junge Frau.
„So viele sind gestorben. Auch ich war einige Male hier“, sagte Malwida. „In Anwesenheit der Toten finde ich Trost.“
„Sie haben auch jemanden zu betrauern. Das sehe ich Ihnen doch an“, sagte die junge Frau.
„Er war nicht einmal dreißig. Sein einsames
Grab ist auch auf einem Hügel vor der Stadt, doch nicht hier, sondern in Gotha.
Efeu mochte er so gern, hellgrün, wie das hier auf den Gräbern der jungen
Kämpfer.“
„Gestorben im Kampf für die Freiheit des
Volkes. Sehen Sie, dort steht es eingemeißelt.“ Der Mann zeigte auf das
einfache Denkmal.
„Das Wertvollste haben sie gegeben …“
„… und doch selbst nach vier Jahren noch
nicht den verdienten Lohn errungen“, bedauerte Malwida. „Deshalb müssen wir
weiterkämpfen, gegen das Joch der Einschränkung und Bevormundung. Gleiche
Rechte für alle Menschen. Mitbestimmung brauchen wir, eine freie Presse.
Freiheit und Selbstbestimmung auch für uns Frauen.“
„Und den Handwerkerverein“, sagte der junge
Mann. „Seitdem der verboten ist, werden wir förmlich in die Schenke getrieben,
anstatt in ordentlichen Versammlungen unsere wirklichen Interessen zu wahren
und in Freiheit unsere Zukunft zu schmieden.“
Mit dem Versprechen, alles ihnen Mögliche
zu tun, damit das Blut der Gefallenen vom 18. März 1848 nicht umsonst geflossen
war, verabschiedeten sie sich mit einem festen Händedruck. Das junge Paar ging
eng umschlungen seinen Weg und Malwida kehrte getröstet und in ihren
Grundsätzen gefestigt zurück in das hektische Treiben der Straßen von Berlin.
(April 1852)
(April 1852)
Fotos: © Renate Hupfeld (Auf dem Friedhof der Märzgefallenen in Berlin Friedrichshain fotografiert am 19. September 2013)
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