Freitag, 20. September 2013

Auf dem Friedhof der Märzgefallenen




Auf dem Hügel vor den Toren der Stadt hörte Malwida die Geräusche der Pferdedroschken und der triumphierenden Soldaten nur ganz schwach. So ein bisschen klang es  sogar wie leises Meeresrauschen. Ganz entfernt hörte sie eine Nachtigall und über ihrem Kopf flüsterten die Blätter, als wollten sie die Stille der hier Ruhenden nicht stören. Sie setzte sich neben eines der Gräber, bewachsen mit frischgrünem Efeu und atmete tief ein. Weit entfernt erstreckte sich die preußische Hauptstadt in der weiten Ebene, über der die Sonne langsam unterging.
Hier fern jeglichen Lärms war sie allein mit den Toten. So schön ruhig hier. Nur langsam ordnete sich das Chaos in ihrer Brust. Die unachtsam hin geschleuderten Pfeile trieben immer wieder Tränen in die Augen, die sie wie einen wohltuenden Schleier empfand. Auf keinen Fall konnte sie zurück in den Schoß der Familie. Wie stellte William sich das denn vor? Weibliche Demut? Das ging nicht. Nicht mehr. Auch nicht der Mutter zuliebe. Sie ließ sich nicht mehr verbieten, ihren Verstand zu gebrauchen. Sie hatte ihre eigenen Vorstellungen. Und sie hatte ja bereits ihren Weg gefunden, heraus aus der Enge. Aber das würde William niemals verstehen, obwohl er sie doch lange genug kannte. Er dachte ja nur an sich und seine Position im Ministerium. Die demokratische Schwester war ihm peinlich. Was hatte er gesagt? Teuflischer Verführer? Irrwege? Gescheitert? Sie spürte ihr Herz klopfen. Nein! nein! Nein! Aus sich selbst heraus hatte sie ihre Überzeugungen. Nicht sie, sondern William war auf Irrwegen. Er würde scheitern, nicht sie. Wenn du etwas brauchst, Malwida. Heuchler. Diese Hilfe brauchte sie schon lange nicht mehr. Warum wollten sie das denn nicht begreifen? Sie fühlte sich zwar schwach, doch das würde vorübergehen. Niemals würde sie ihre Ideale verraten, ihre Ideen von einem freien Land mit freien selbstbestimmten Frauen mit denselben Rechten wie Männer sie haben. Selbst, wenn sie gegen Geflogenheiten und geschriebene und ungeschriebene Gesetze handelte. Sie musste auf ihre innere Stimme hören. Wie Antigone. Ja, sie konnte nicht anders handeln, auch nicht der Familie zuliebe.
Wie Antigone.
War ihr jemand gefolgt? Plötzlich kam es ihr vor, als wäre sie nicht allein. Zwei junge Menschen blickten aus einiger Entfernung zu ihr hinüber. Wie lange standen sie wohl schon da? Als sie sich entdeckt sahen, kamen sie ein paar Schritte auf sie zu. Sie stand auf und ging ihnen entgegen, die beiden kamen auch näher.
„Verzeihen Sie, wenn wir Ihre Ruhe gestört haben“, sagte der Mann. „Wir haben Sie lange angesehen, wie Sie da so traurig und gedankenvoll saßen. Sie müssen eine von uns sein.“
Die junge Frau nickte zu seinen Worten.
„Wenn die Arbeit uns mal ein Stündchen Zeit lässt, kommen wir hierher zu den Gräbern unserer toten Freunde.“
„Kannten Sie viele der jungen Menschen, die hier begraben sind?“, fragte Malwida.
„Einige aus dem Handwerkerverein und aus der Fabrik. Dort haben sie gearbeitet wie wir. Carl war erst achtzehn. Und am achtzehnten März ist er gestorben.“
„So viele sind gestorben. Auch ich war einige Male hier“, sagte Malwida.  „In Anwesenheit der Toten finde ich Trost.“
„Sie haben auch jemanden zu betrauern. Das sehe ich Ihnen doch an“, sagte die junge Frau.
„Er war nicht einmal dreißig. Sein einsames Grab ist auch auf einem Hügel vor der Stadt, doch nicht hier, sondern in Gotha. Efeu mochte er so gern, hellgrün, wie das hier auf den Gräbern der jungen Kämpfer.“
„Gestorben im Kampf für die Freiheit des Volkes. Sehen Sie, dort steht es eingemeißelt.“ Der Mann zeigte auf das einfache Denkmal.
„Das Wertvollste haben sie gegeben …“
„… und doch selbst nach vier Jahren noch nicht den verdienten Lohn errungen“, bedauerte Malwida. „Deshalb müssen wir weiterkämpfen, gegen das Joch der Einschränkung und Bevormundung. Gleiche Rechte für alle Menschen. Mitbestimmung brauchen wir, eine freie Presse. Freiheit und Selbstbestimmung auch für uns Frauen.“
„Und den Handwerkerverein“, sagte der junge Mann. „Seitdem der verboten ist, werden wir förmlich in die Schenke getrieben, anstatt in ordentlichen Versammlungen unsere wirklichen Interessen zu wahren und in Freiheit unsere Zukunft zu schmieden.“
Mit dem Versprechen, alles ihnen Mögliche zu tun, damit das Blut der Gefallenen vom 18. März 1848 nicht umsonst geflossen war, verabschiedeten sie sich mit einem festen Händedruck. Das junge Paar ging eng umschlungen seinen Weg und Malwida kehrte getröstet und in ihren Grundsätzen gefestigt zurück in das hektische Treiben der Straßen von Berlin.

(April 1852)


Leseprobe aus:


Lebensgeschichte von Theodor Althaus:  

Theodor Althaus - Revolutionär in Deutschland (KIndle)


Fotos: © Renate Hupfeld (Auf dem Friedhof der Märzgefallenen in Berlin Friedrichshain fotografiert am 19. September 2013)

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