Samstag, 13. Mai 2023

Römischer Frühling

(Romain Rolland besucht Malwida von Meysenbug in Rom -  Mai 1890)

Schwarze Wolken verdunkelten den eben noch strahlend blauen Himmel über Rom. Frühlingsgewitter, schon seit Tagen. In seinem Kopf klang immer noch diese großartige Sonate nach, von Trauer und Hoffnung, von Unruhe und Aufbruch, Adagio Sostenuto. Beethoven. Seit seiner Kindheit begleiteten ihn die Schöpfungen dieses Genius und hatten ihm schon so oft Rettung aus seelischer Not gebracht.
Vor ihm auf dem Schreibtisch lagen drei Blätter aus veilchenblauem Papier, darauf akkurate Zeilen in großer, klarer Schrift. Romain Rolland griff nach dem Brief und las: ‚leidenschaftliche Freundschaft…zunichte gewordene Illusion’. Malwida von Meysenbug hatte diese Worte geschrieben. Sie erwartete eine Erklärung. Ach, sie wusste ja nichts, seine Idealistin. Er war doch wie immer gewesen, mal schweigsam, mal gesprächig. Warum hatte sie plötzlich kein Vertrauen mehr zu ihm? Sie konnte ihm nichts vorwerfen. Nicht wegen des Klavierspiels war er in den vergangenen Tagen der Villa Mattei ferngeblieben. Es störte ihn nicht, wenn Donna Laura Minghetti bei Einladungen in ihren Salon ankündigte, Signore Rolland würde kommen und wieder spielen. Nein, am Piano kannte er keine Schüchternheit. Da hatte er nur die Kompositionen der großen Meister im Kopf und vergaß alles um sich herum.
Der Grund für sein Fernbleiben war ein anderer, aber das konnte sie nicht wissen. Konnte sie denn sehen, wie es in ihm loderte? Unmöglich, sein Geheimnis preiszugeben, es ging ja nicht um ihn allein. Sofia. Er konnte dieses wunderbare Mädchen nicht kompromittieren, zumal sie in ihrer jugendlichen Fröhlichkeit gar nichts ahnte von den Leiden eines törichten Verehrers. Dieses Feuer in seiner Brust. Würde sie es denn verstehen, die Verfasserin der ‚Memoiren einer Idealistin’? Andererseits, wer könnte die Flammen besser löschen, als sie, seine Freundin mit dem Weitblick nach einem langen, bewegten Leben? Nur, wollte er das überhaupt? Diese Leidenschaft fesselte ihn so sehr, dass er oft an nichts anderes mehr denken konnte. Aber war sie nicht auch eine Quelle seines Schaffens? Ein kleiner Roman von Liebe und Leidenschaft war in den vergangenen Wochen daraus erwachsen.
Er hatte ihr einen Antwortbrief geschrieben. Heute wollte er die Besuche in der Via della Polveriera endlich wieder aufnehmen und ihr bei dieser Gelegenheit seine Zeilen zukommen lassen. Wie wäre denn das vergangene halbe Jahr in Rom gewesen ohne seine liebe Freundin? Er konnte seinem Lehrer in Paris nicht genug danken dafür, dass er ihn dieser weitgereisten und belesenen Frau vorgestellt hatte. So ließ er Piano und Schreibtisch in dem kleinen Mansardenzimmer im Palazzo Farnese zurück und machte sich auf den Weg.
Richtig warm war es noch geworden an diesem Maitag. Die Sonne strahlte wieder, als hätte es die Wolken nie gegeben. Fräulein von Meysenbug erwartete ihn erst am frühen Abend, so konnte er gemächlich durch die Straßen und Gassen dieser unvergleichlichen Stadt schlendern, auf ihren einzigartigen Plätzen den Atem dieser Welt der Kunst und Poesie spüren. Dort oben auf dem Janiculum jenseits des Tiberflusses hatte er zum ersten Mal in seinem Leben sich selbst erlebt. Freiheit. Ungeheuren Schaffensdrang hatte er gefühlt und die Kraft abzuheben und zu fliegen, die ganze Menschheit unter sich mit all den herrlichen Geschöpfen aus uraltem Gestein, aus weißem Marmor und in wunderbaren Formen und Farben, uralt und so nah.
Neben dem Obelisken machte er Halt. Ein Löwe auf einem pyramidenförmigen Steinsockel schleuderte ihm einen dicken Wasserstrahl entgegen und ließ das kühle Nass unaufhörlich in ein rundes Becken strömen. Ein Kutscher tränkte hier gerade sein Pferd und Romain nahm die Gelegenheit wahr, sich die heiße Stirn zu kühlen, dankbar für den Reichtum dieser Stadt, die für jedermann Erquickung bereit hielt.
Auf dem Corso herrschte wieder reges Treiben. Hier gab es alles zu kaufen, was man sich erträumte, Lederbeutel und Bücher, Jacken und Hüte, Obst und Blumen. Alle Menschen waren fröhlich miteinander, ganz anders als in den nordischen Gegenden, wo manchem der Missmut im Gesicht geschrieben schien. Männer standen in Gruppen, redeten miteinander.
Und da. So ein liebes Gesicht. So wunderschöne braune Augen. Auf der Stufe vor einem Bäckerladen saß ein Mädchen, blickte verträumt in den blauen Himmel, das orangeblau karierte Schultertuch hatte es abgestreift und neben sich gelegt. Das Mädchen erinnerte ihn an Sofia. Doch Sofia würde niemals auf der Gasse sitzen und Kleidungsstücke ablegen. Wenn er es andererseits recht überlegte, mit einem Bäckermädchen wäre wohl einiges einfacher, als mit der Tochter eines Marquis. Um deren Hand könnte er ja doch niemals anhalten.
Fräulein von Meysenbug wohnte nun schon seit fünfzehn Jahren in der Via della Polveriera  am südlichen Rande der Stadt. Rom war nach Kassel, Detmold und London ihre Wahlheimat. Sie kannte sich dort bestens aus und war bei den Veranstaltungen der Kreise des Adels und der Kunst stets gern gesehen. Davon profitierte er, hatte sie ihm doch den Zugang zu den Salons und Parks ermöglicht, in denen sich das kulturelle Leben von Rom abspielte. Anfangs hatte er sich gewundert, dass sie in einem eher ärmlichen Viertel wohnte. Aber dann merkte er, dass sie umgeben war von den ältesten antiken Stätten, sowie dem gigantischen Kolosseum und Michelangelos Moses in der nahegelegenen Kirche. Das war eine andere Art von Reichtum.
Etwas beklommen war ihm zumute, als er die dunkle Treppe zum ersten Stock hinaufstieg, doch angenehm kühl war es hier. Kinder spielten und lärmten in der Art, wie Kinder es eben tun. Als die Haushälterin Trina ihm öffnete und er die große Diele betrat, empfand er ein herzliches Willkommen, fühlte sich sofort wie auf einer hellen Insel der Ruhe. Trina führte ihn zur Tür des Salons, klopfte und wartete auf das ‚Herein’.
„Signore Rolland“, sagte sie und die zierliche weißhaarige Frau auf dem Stuhl vor dem Sekretär drehte sich herum, erhob sich und kam mit für ihr fortgeschrittenes Alter sehr leichten Schritten auf ihn zu. Lange hielt sie seine Hände in den ihren und schaute ihn an mit ihren klaren Augen, die mehr als Worte sagten und alle Unsicherheit fortwehten.
„Sie sind ja noch schmaler geworden, junger Freund. Ich fürchte, Sie haben nicht genug gegessen in ihrem Studierzimmer. Soll Trina Ihnen erst einmal ein Sandwich machen?“
„Nein, nein, zu gütig“, sagte Romain eilig.
Sie schickte ihn mit einem Wink zum Kolosseumfenster, wo er seinen gewohnten Platz in der Sofaecke einnahm, und setzte sich ihm gegenüber in ihren Lehnsessel.
„Ich freue mich über Ihren Besuch, umso mehr, als doch meine Abreise nach Bad Ems und anschließend nach Versailles bevorsteht“, begann sie mit ihrer sanften Stimme. „Die Erinnerung an unsere gemeinsamen Unternehmungen hier in Rom und in der Umgebung ist viel zu kostbar, als dass wir uns mit einem Misston voneinander verabschieden sollten.“
Romain atmete auf. Sie hatte Recht. Er sah die Marmorbank am Ende der Eichenallee wieder vor sich, auf der sie gemeinsam gesessen hatten, dachte an den Spaziergang auf der Via Appia. Nicht zu vergessen die Kutschfahrt in die Campagne, Berge, Vulkanseen und wunderbare Natur. Vor allem aber dachte er an Abende wie diesen.
„Die Freude ist ganz meinerseits, verehrtes gnädiges Fräulein. Ich teile Ihre Gedanken über die Kostbarkeit unserer Freundschaft. Doch… Sie haben mir einen Brief geschickt, Ihre verlorene Illusion, Sie wünschen eine Erklärung“
„Weil ich mich um Ihre Zukunft sorgte, mein lieber junger Freund. Sehe ich doch für Ihren Weg die Ideale der Kunst, wir redeten darüber. Sie sind geschaffen für die Musik und die Dichtung.“
Ja, das war seine liebe Freundin, sie glaubte an das in ihm, was ihm das Wichtigste überhaupt war, wichtiger als Erfolg und Geld, seine Zukunft auf dem Gebiet der Kunst. Ihr Vertrauen in seine Schöpferkraft bestärkte ihn im Glauben an sich selbst und gab ihm Kraft, diesen sicherlich beschwerlichen Weg auf einsamen Pfaden allen anderen vorzuziehen.
 „Ich fühlte eine Disharmonie bei unseren Treffen“, fuhr Malwida fort, „dunkle Schatten sah ich in Ihrem Gesicht. Da fürchtete ich, diese Ideale, unsere Ideale, ja, diese Entwicklung Ihrer Begabungen könnte gestört werden.“
Alles, was er jetzt hätte erklären können, hatte er aufgeschrieben. Und dass er sie von ganzem Herzen liebte, konnte er ohnehin besser schreiben als sagen. Er fühlte das Briefkuvert in seiner Jackentasche. Ja, er liebte sie, seine Idealistin, die ihm nur Gutes getan hatte.
Ihr Blick wanderte zum Pianino. Romain verstand sofort. Er erhob sich,  ging ohne weitere Worte zum Schemel, setzte sich und klappte den Deckel auf. Dann fuhren seine Finger über die Tasten, langsam und schnell und füllten die Töne den Raum mit dem Zauber einer wunderbaren Welt aus Melodien.
Lange ließ er das Musikstück in sich ausklingen, dann klappte er den Deckel wieder zu und ging still zurück an seinen Platz.
Jedes Wort würde jetzt den Zauber zerstören. So saßen sie schweigend und jeder hatte seinen eigenen Traum.
Malwida träumte in ihre Vergangenheit, ein langes Leben, ausgefüllt mit allem, was ein Menschenherz bewegen konnte, mit Tragödien, aber auch mit großem Glück und dem unerschütterlichen Glauben an ihre Ideale, die alles Vergängliche überdauern würden.
Romain dagegen träumte von einer neuen Zeit, von einer Zukunft als ungestümer Schöpfer einer musikalischen Dichtung, wie eine Symphonie aus Tönen, einen musikalischen Roman sah er entstehen.
Es war Nacht geworden, als er sich zum Aufbruch bereit machte. Das Briefkuvert legte er der Freundin auf den Tisch, bevor er sich verabschiedete und durch die stillen Straßen der ewigen Stadt den Heimweg antrat.

Aus: Wenn wir von Liebe reden

Mittwoch, 20. Juni 2018

La Grande Chartreuse




aus: Malwida von Meysenbug, "Die Malerei war immer meine liebste Kunst"


(Ausflug zum Kartäuserkloster bei Grenoble  - Mai 1845)

Nach einer Übernachtung in Grenoble hatte Malwida von Meysenbug Gelegenheit, das Gelübde an den Weltgeist zu bestätigen. Zusammen mit Herrn Ludwig und den beiden Jungen ließ sie sich mit der Kutsche in ein nahe gelegenes Dorf bringen. Von dort aus wagte sie sich auf einem Mautier an den Aufstieg zum Karthäuserkloster hoch oben im Gebirge. Geführt wurde die Gruppe von einem kundigen Manne. Hätte sie gedacht, was auf sie zukam? Zwischen riesigen Felswänden durchquerten sie eine Schlucht, in deren Tiefe ein reißendes Gewässer tobte. Immer enger wurde der Pfad und immer bedrohlicher der Abgrund. Irgendwann befanden sie sich wohl oberhalb der Vegetationsgrenze, wo nichts mehr zu leben schien. Todestor nannte man den Durchbruch im Felsen, den sie passieren mussten. In dieser schauerlichen Szenerie fühlte sich Malwida sich an Dantes Höllentor erinnert und war dann ganz erstaunt, als sie in ungefähr 2000 Metern Höhe zu Füßen des Bergmassivs eine Ebene in üppigem Grün erreichten. Hier wuchsen prächtige Bäume und Blumen in den schönsten Farben.

Am Eingang der Klosteranlage wurden sie von zwei Laienbrüdern empfangen. Ohne ein Wort zu wechseln, nahm der eine den Bergführer zur Seite und brachte zusammen mit ihm die Maultiere in einen Stall. Der andere Klostermann stand da und schwieg. Die Kutte hing über seinen leicht nach vorne gebeugten Schultern und fiel ihm bis auf die Sandalen. Ein dicker Hornknopf hielt das etwas dünnere Leinenhemd darunter zusammen. Nichts an dieser Kleidung und der Art, wie er sie trug, vermittelte den Eindruck, als würde sie ihn einengen, auch nicht die Kapuze, obwohl sie Hals und Nacken schwer umschloss. Sah so jemand aus, der am Ende eines steinigen Weges die Wahrheit gefunden hatte? Die Wahrheit, nach der zu streben sie gerade einen Tag zuvor auf der steilen, vereisten Passstraße gelobt hatte? Das Hell und Dunkel seines Gesichtes diesseits und jenseits der scharfen Trennlinie über Stirn, Nase und Mund, vermittelten den Eindruck einer unerschütterlichen Gelassenheit. Es war eine andere Art von Gelassenheit, die dieser Mann ausstrahlte. Sie gehörte ebenso hierher wie der gefährliche Pfad zwischen schroffen Felsen und Abgründen, wie das Höllentor, wie die fruchtbare Ebene und der in der Abendsonne leuchtende Felsgipfel.

Es mochte eine Stunde vergangen sein, vielleicht weniger, vielleicht mehr. Der große Schweiger hatte Herrn Ludwig zum Eingangsportal des Klosters gebracht, sie und die Jungen in das kleine Holzhaus geführt, wo er sie mit Brot, Butter und Tee bewirtet hatte. Nun stand er in diesem winzigen Raum ihr gegenüber und nickte, unentwegt lächelnd. Sein Schweigen konnte sie kaum ertragen. Noch keinen Laut hatte sie aus seinem Munde gehört. Selbst sein Blick wirkte stumm. Nicht die kleinste Bewegung der Kutte. Doch was hatte sie erwartet? Befolgte er doch nur die Regel, die ihr allerdings bis vor ein paar Minuten unbekannt gewesen war. Sie durfte das Innere des Klosters nicht betreten. Das durften nur Männer. Ihr war nun dieses winzige Domizil zugewiesen. Es war alles da, was sie für einen Abend und eine Nacht brauchte: Bett, Stuhl und Waschtisch, auch was sie nicht brauchte: Betbank, Kruzifix und Weihwasserbecken. Sie nickte und versuchte den Schweiger dabei anzulächeln. Ein aufgesetztes Lächeln, doch das merkte er nicht. Er hatte aber verstanden, dass sie nun allein sein wollte. Mit einer höflichen Verbeugung drehte er sich um und ging hinaus, wobei jeder Schritt auf knarrenden Dielen und Treppenstufen in dem Holzhaus nachhallte.
Müde vor Enttäuschung ließ sie sich auf den Stuhl fallen. Unten räumte der Laienbruder das Essgeschirr vom Tisch, wusch es ab und stellte Stück für Stück in den Schrank. Das konnte sie nicht sehen, jedoch hören und sich vorstellen. Nach getaner Arbeit verließ er das Haus, schob den Schlüssel in das Schloss und drehte ihn herum. Dann schlurfte er davon, zu den anderen Klostermännern, die ihr schweigsames Leben ihrem Gott gewidmet hatten. Dort befand sich auch der Besucher für einen Abend und eine Nacht, mit dem zusammen sie die Gebirgstour von Grenoble aus hier hinauf gemacht hatte und der nun dieses Vorrecht genoss.

Malwida zog ihr Skizzenbuch aus der Tasche und legte es sich auf die Knie. Mit den Augen verfolgte sie die Windungen des marmorierten Musters auf der Vorderseite. Dann zeichnete sie die Linien mit dem Finger nach. Das leise Wischgeräusch bei der Berührung mit der rauen Pappe dämpfte die innere Unruhe. Sie begann immer wieder von vorne, während sich langsam ihre Gedanken ordneten. Sie öffnete das Fenster und schob die beiden Flügel beiseite. Hinter den Mauern die Gemeinschaft der Männer und sie hier außerhalb der klösterlichen Festung als stille Beobachterin, allein mit ihrem marmorierten Skizzenbuch, das nun aufgeschlagen vor ihr auf der Fensterbank lag. Weich flossen ihre langen Haare über Schultern und Rücken, als sie das Band löste. Dann zeichnete sie, was der Bildausschnitt auf die große Kartause freigab. In der Mitte das Haus mit dem bogenförmigen Eingangsportal, das sie nicht betreten durfte. Hinter hohen Mauern die sichtbaren Teile von Gebäuden mit Fenstern, Dächern und Türmen.
Als die Dämmerung eintrat, war sie mit ihrem Stift längst hoch oben auf dem Bergmassiv angekommen, bei den unzähligen dunklen Tannen, die sich hoch kämpften und unterhalb des Gipfels in einem langen dunklen Saum endeten. Sie zeichnete jede einzelne. Oberhalb schlängelte sich ein Lichtpfad hinauf auf ein silbern strahlendes Plateau, das sie leichten Fußes erreichte. Als sie über die Fläche schwebte, spürte sie ihre Haare und die Schleppe ihres Gewandes frei im Lufthauch wehen. Ein heller Glockenton, ein weiterer und noch einer setzten die Silberstrahlen in tausend und abertausend Schwingungen. Als die Glocke verklungen war, intonierten Stimmen einen Gesang, der ihr nicht fremd war. Als hätte sie Worte und Melodie immer schon gesungen und würde nie damit aufhören, stimmte sie mit ein: Ich zögere nicht, gehe den einsamen Pfad, den jeder geht, der die Wahrheit sucht.
Als dicke weiße Flocken vom Himmel herabwirbelten, sich auf ihrem Gesicht auflösten und kühle Tropfen auf das dunkle Portal hinunterrollten, klappte sie das Skizzenbuch zu und legte es zur Seite. 

Durch lautes Klopfen und die aufgeregte Stimme des Erziehers wurde sie früh am nächsten Morgen geweckt.
„Mademoiselle von Meysenbug, wachen Sie auf. Es gibt Schwierigkeiten. In der Nacht hat es geschneit und die Sicht ist sehr schlecht.“
„Ich weiß, Herr Ludwig“, rief sie. „Warten Sie unten auf mich. Wir besprechen nachher, was wir tun.“
Sie stand auf und zog sich an. Die Nebelschwaden vor ihrem Fenster versetzten sie keinesfalls in Panik. Ihr war, als wäre alle Schwere von ihr gewichen. Auf der Treppe strömte ihr Kaffeeduft entgegen. Im Essraum hatte der Laienbruder ihnen das Frühstück bereitet, frisches Brot, Butter und Honig. Der Erzieher saß mit den Kindern am Tisch. Alle drei schienen auf sie zu warten.
„Ich habe Angst, Tante Malwida“, jammerte Wilhelm.
„Ich auch“, sagte Alphons, der Ruhige. „Das Höllentor finden wir im Nebel gar nicht mehr und wenn das Maultier ausrutscht, bin ich verloren.“
„Das sagt ihr, denen gestern kein Fels zu steil war?“, entgegnete Malwida, lachend, obwohl sie die Angst der Kinder gut verstehen konnte. Auch ihr lief ein Schauer über den Rücken, wenn sie an den Abstieg dachte. Schon bei gutem Wetter war die Tour voller Gefahren gewesen. Heute würden die schmalen Pfade zudem noch rutschig sein. Sie wollte sich das gar nicht ausdenken.
„Hätten wir das doch nie gemacht! Ich will nach Hause“,  jammerte nun Alphons und nahm den Bruder in den Arm.
Warum hatten sie die Kinder eigentlich in diese Gefahr gebracht, fragte sich Malwida. Dennoch wunderte sie sich, wie ruhig sie blieb. Als hätte ein Hauch von Gelassenheit sie berührt.
„Wie sollen wir hinunter in das Tal kommen?“, wandte jetzt der Erzieher ein. „Ihre Schwägerin wird sich große Sorgen machen, wenn wir nicht gegen Mittag zurück sind in Grenoble.“
„Das wird sie“, entgegnete Malwida. „Doch in dieser Situation ist unsere Sicherheit wichtiger, vor allem die Sicherheit der Kinder.“
Herr Ludwig nickte.
„Wir müssen dem Bergführer und seinen Maultieren vertrauen. Nach dem Frühstück werde ich mit dem Mann reden“, fuhr sie fort, obwohl sie der Meinung war, dass das eigentlich die Aufgabe des begleitenden Herrn war. Doch dessen Kenntnisse der französischen Sprache reichten auch nach einem halben Jahr Aufenthalt in der Provence kaum aus, um diese Angelegenheit zu regeln.
„Herr Ludwig, wie war eigentlich die Nacht im Kloster?“, fragte Alphons und sah seinen Erzieher mit gespannter Erwartung an.
„Ja, erzählen Sie mal“, forderte Wilhelm ihn auf.
„Am Eingang empfing mich ein Laienbruder.“
„Ein anderer?“
„Der führte mich in eine Zelle, ziemlich klein mit einem einfachen Bett.“
„Und Kruzifix und Betbank“, unterbrach der Kleinere ungeduldig. „Und war ein Fenster in der Zelle?“
„Ein kleines.“
„Kruzifix und Betbank?“
„Und ein Blechofen war noch da, den brauchte ich aber nicht. Durch das Fenster konnte ich übrigens in einen kleinen Garten mit Obstbäumen und Gemüsebeeten sehen.“
‚Nichts gesehen hat er’, dachte Malwida.
„Und wie sah es sonst im Kloster aus? War es groß da drinnen?“, fragte Alphons.
„Lange Gänge, viele Zellentüren, ein Kloster eben. Einen Rundgang durfte ich nicht machen. Zumeist hielt ich mich in meiner Zelle auf.“
„Bis jemand Sie abholte?“, wollte Malwida wissen.
„Ja, bis zur Mitternacht die Glocke läutete. Der Laienbruder nahm mich mit in das so genannte Reflektorium.“
„Mitten in der Nacht?“
„Jede Nacht machen sie das, Wilhelm. Das ist die Regel.“
„Jede Nacht in dieses Reflektorium?“, wunderte sich auch der Bruder. „Reflektorium, ein seltsames Wort.“
„Ja, immer dort. Das Reflektorium ist ein großer Raum mit hohen Fenstern. Wie eine Kirche müsst Ihr euch das vorstellen. Lange Betbänke an den zwei Seitenwänden.“
„Und wie viele Klostermänner waren um Mitternacht in diesem Reflektorium?“, setzte der Kleine nach.
„Alle, denke ich. Doch wie überall, wurde auch hier nicht gesprochen. So konnte ich niemanden fragen. Ich schätze, es waren ungefähr siebzig. Einer der Patres stimmte einen Gesang an und der ganze Chor setzte mit ein, Gregorianische Gesänge nennt man das.“
„Haben Sie sich die Texte gemerkt?“, wollte Malwida wissen.
„Texte? So genau weiß ich das nicht mehr.“
„Ach, das haben sie gar nicht gehört?“
„Wichtiger war die Atmosphäre. Die war sehr bewegend.“
Wenn sie jetzt antworten würde, gäbe es wieder ein Streitgespräch mit diesem Mann. Darin sah sie schon längst keinen Sinn mehr. Wahrscheinlich beherrschte Herr Ludwig die lateinische Sprache ebenso wenig wie die französische, dachte sie und ging hinaus.
Draußen war keine Spur mehr von Nebel und Schnee, der Regen hatte nachgelassen und die Sonne blinzelte zwischen den Wolken.
Mit einigen Stunden Verzögerung kamen sie dank der Erfahrung des Bergführers und der unglaublichen Gebirgstauglichkeit seiner Maultiere wohlbehalten unten im Dorf und später in Genoble an, wo Caroline sich schon das Schlimmste ausgemalt hatte und nun sehr erleichtert war.

Die Weiterfahrt in nördliche Richtung führte am 14. Mai 1845 nach Savoyen über Chambéry bis Aix-les-Bains. In der Abenddämmerung saß Malwida  am Ufer des „Lac du Bourget“, der eine seltsam traurige Stimmung mit ihr zu teilen schien. Ihr war, als ob die Sehnsucht sich mit dem leichten Dunst über dem Wasser niederließ und sie träumte sich in die kleine Barke, neben sich den Geliebten, an dessen Schulter sie sich anlehnte. Es war, als würde das kleine Boot zusammen mit ihnen in das Buch schweben, dem sie immer und immer wieder von traurigen und glücklichen Momenten erzählen konnte. Bild und Zeilen dieser einsamen Abendstunde widmete sie ihrem Freund im fernen Detmold, dem sie auf dieser Rückreise täglich ein Stück näher kam.

Als sie am Tag darauf Frankreich verließen und in die Schweiz einreisten, musste sich Malwida auch von ihrer geliebten französischen Sprache verabschieden. Die Gruppe machte Station am See von Neuchâtel und am Bieler See, bevor man auf der Strecke nördlich des Genfer Sees ein letztes Mal über dem gegenüberliegenden Südufer die prächtige Bergkulisse mit schneebedeckten Alpengipfeln bestaunen konnte. Malwida dokumentierte mit dem Bleistift soviel es ging und es entstanden noch ein paar wunderbare Zeichnungen.
Von Solothurn aus ging es zurück nach Deutschland. Caroline fuhr mit Kindern und Bediensteten zu ihrem Mann Friedrich von Meysenbug nach Frankfurt. Malwida nahm das Schiff rheinaufwärts und erreichte am 31. Mai 1845 die Stadt Köln, von wo sie mit der Postkutsche in die lippische Residenzstadt Detmold zurückkehrte.



Freitag, 8. Dezember 2017

Theodors letztes Weihnachtsfest



Kurz vor Weihnachten fühlte er sich immerhin so kräftig, dass er seiner Schwester nach Berlin einen langen Brief schreiben konnte. Er bedankte sich für die Köstlichkeiten und die warme Decke, die sie ihm in einem großen Paket geschickt hatte und beschrieb, wie er im Sofa saß und es sich mit schönen warmen Füßen unter der Decke und Elisabeths Leckereien gemütlich machte. Er berichtete von der lieben Frau Seebach, der Krankenwärterin, die abends beim Zubettgehen auch immer darauf achtete, dass er schöne warme Füße habe. Mit Wehmut dachte er an das bevorstehende Weihnachtsfest und schrieb von einer schlank gewachsenen dunklen Tanne vor seinem Fenster gerade so hoch, daß sie mit ihrer schönen Krone wohl Platz hätte zum Fest in einem hohen weiten Saale, wo ganze Scharen von Kindern in ihrem Lichterkranz tanzen könnten.
Obwohl Verwandte und Freunde ihn zu Weihnachten wieder mit Geschenken und Aufmerksamkeiten erfreuten, vermisste er seine Lieben weit mehr als im Vorjahr im Gefängnis. Er fühlte sich sehr einsam, war aber getröstet durch einen stillen jungen Mann, mit dem Frau Seebach ihn zusammengebracht hatte und der am zweiten Feiertag bei Tee und Kuchen ein paar Stunden mit ihm verbrachte, wobei Theodor ihm eingehend von vergangenen Zeiten erzählen musste, als er noch mit Arnold Ruge, Moritz Hartmann und Eduard Meißner in Leipzig gemeinsame Träume hatte.
Nach Weihnachten besuchte ihn Malwida von Meysenbug. In ihren Memoiren berichtete sie darüber: „Ich fand ihn auf dem Sofa liegend, er schien tief gerührt, mich zu sehen. Ich war bis in das Innerste erschüttert von seinem Anblick und dachte, dass das nicht die einzigen Helden sind, die auf dem Schlachtfeld für die Freiheit sterben. Er starb ja auch, ein Kämpfer, an den Folgen des Kampfes. Sein Zimmer war gross und luftig, aber es war doch das Zimmer eines Hospitals, und er war allein da, fern von allen, die er liebte. Er war noch nicht dreissig Jahr, aber er schien mindestens vierzig; ein langer schwarzer Bart hob seine Blässe und Magerkeit noch mehr hervor, und wenn ein Lächeln auf seine Lippen kam, so war es traurig zum Weinen.“
Die Freundin hatte sich in einem Gasthof eingemietet und blieb eine Woche in Gotha. Täglich besuchte sie Theodor und blieb so lange, bis er sich ausruhen musste. Auch den Silvesterabend verbrachten sie mit Erinnerungen an ihre Zeit in Detmold, ihre gemeinsamen Ideale von Liebe und Freiheit und an seine Mutter. Bevor Malwida Gotha verließ, besorgte sie ihm einen bequemen Lehnstuhl, weil ihr aufgefallen war, wie schwer das Sofasitzen ihm fiel. Malwida erinnert sich:  „Er war sehr gerührt, und als er mir die Hand zum Abschied reichte, sagte er mit bewegter Stimme: 'Man hat behaupten wollen, dass die demokratischen Frauen kein Herz hätten; es ist an mir, dem zu widersprechen.’“


Auszug aus:

Freitag, 24. März 2017

31. März 1848: Vorparlament in der Paulskirche




Märzrereignisse in Frankfurt

Ehe sich dieses Problem klären ließ, gab es auf der politischen Bühne einen Paukenschlag nach dem anderen, beginnend mit dem Aufstand in Palermo gegen den bourbonischen König, gefolgt von den Sturmglocken in Paris, Metternichs Flucht aus Wien und dem Barrikadenkampf in Berlin am 18. März 1848. Es wurde ein wahrer Völkerfrühling, der von den Menschen in allen Ländern des Deutschen Bundes euphorisch gefeiert wurde. Auf Straßen und Plätzen redete man von Freiheit und den Rechten des Volkes.
Malwida konnte sich über die positiven Veränderungen jedoch nur zusammen mit Theodor freuen. Von ihm bekam sie aus Leipzig einen begeisterten Brief. In der Familie dagegen konnte sie mit niemandem die Freude teilen, mit niemandem darüber reden. Mutter und Geschwister waren entsetzt über die Entwicklungen und hofften auf ein baldiges Ende.

Doch war es erst der Beginn. Nach den revolutionären Aktionen kehrte schon bald Ruhe ein und die Besonnenheit einiger tüchtiger Männer siegte. Zur Eröffnung des Vorparlamentes in der Paulskirche am 31. März 1848 waren in Frankfurt alle Straßen und Plätze mit Fahnen und Bändern in Schwarzrotgold geschmückt. Man hatte den Eindruck, dass die gesamte Frankfurter Bevölkerung auf der Straße war. Zusammen mit einer Freundin war auch Malwida dabei, als fast 600 Vertreter aus allen deutschen Ländern vom Kaisersaal auf dem Römerplatz zur Paulskirche zogen, um die Wahlen des ersten deutschen Parlamentes vorzubereiten. An vier aufeinanderfolgenden Tagen traten die Delegierten zusammen. Auf den Straßen erlebte man herausragende Volksmänner, die auf Holztribünen zu den Menschen sprachen. Besonders beeindruckt war Malwida von Friedrich Hecker aus Baden und Robert Blum aus Leipzig. Gern würde sie auch den Reden und Aussprachen in der Paulskirche zuhören, aber der Zugang zur Galerie war nur Männern gestattet. An einem Tage bekam sie unerwartet eine Gelegenheit durch die Hilfe eines Bekannten ihrer Freundin, der mithalf, die Abläufe zu organisieren. Der verschaffte ihnen Zugang zu einem nicht öffentlichen Bereich. Es war ein mit schwarzrotgoldenen Tüchern verhängter Raum. Hinter diesem Vorhang versteckt, hielten sich einige Ehefrauen der Teilnehmer auf, ohne gesehen zu werden. Malwida war zutiefst beeindruckt von dem, was da unten in der kreisförmigen Kirchenhalle ablief. Das Land bewegte sich und versprach dank des Bemühens tüchtiger Männer ein lebendiges Staatswesen zu werden. Das mitzuerleben, war schon großartig und am 18. Mai 1848 sollte es erst richtig losgehen, wenn die offizielle Wahl der Deputierten abgeschlossen war und sich die gewählten Vertreter der einzelnen Länder des deutschen Bundes zur Eröffnung der Nationalversammlung in der Paulskirche einfinden würden. 

aus: Malwida und der Demokrag

mehr zu Vormärz und Revolution: Theodor Althaus. Revolutionär in Deutschland

Bildquelle: 
Der Einzug des Vorparlaments in die Paulskirche am 31. März 1848, Frankfurt am Main
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Donnerstag, 27. Oktober 2016

28. Oktober 1816: Malwida von Meysenbug wird in Kassel geboren


















1816 Malwida von Meysenbug wird am 28. Oktober  in Kassel geboren
1830 Familie muss Kassel verlassen.
1832 Umzug nach Detmold
1843 Predigt von Theodor Althaus in Detmold
1844/45 Winteraufenthalt in Hyères in der Provence, Liebe zu Theodor
1847 Tod des Vaters in Frankfurt
1848 Vorparlament in Frankfurt,  Distanz zu Theodor
1849 Reise nach Ostende
1850 Hamburger Frauenhochschule
1851 Theodors Erkrankung
1852 Theodors Tod, Emigration nach London, wohnt zunächst bei Johanna  und Gottfried Kinkel
1853 Erzieherin bei Alexander Herzen in London
1857 Bekanntschaft mit Guiseppe Mazzini
1859 Paris
1861 London
1865 Florenz
1869 „Memoiren einer Idealistin“ in französischer Sprache
1876 mit Nietzsche, Bree und Brenner in Sorrent
1877 Wohnung in der Via Polveriera in Rom
1882 bei Cosima und Richard Wagner in Bayreuth
1890 Begegnungen mit Roman Rolland in Rom
1903 Tod Malwida von Meysenbugs am 26. April in Rom




DOWNLOAD ► Malwida und der Demokrat (die Jahre 1843 bis 1852)














Mittwoch, 12. Oktober 2016

Nordischer Wintergarten. Gedichte für Malwida


Wie ein Nordischer Wintergarten musste Theodor Althaus die kleine Welt in Detmold vorgekommen sein, als seine Freundin Malwida von Meysenbug Ende September 1844 für einige Monate in die Provence gereist war. Ohne berufliche Perspektive nach dem Abschluss seines Studiums waren die Gespräche mit ihr mehr als nur Lichtblicke. Er hatte sich verliebt in die Frau, die seit seiner ersten Predigt in ihm einen jungen Apostel sah, dessen Botschaften sie im tiefsten Herzen trafen. Seine poetischen Abschiedsgrüße gab er ihr mit auf den Weg und schrieb weitere Gedichte, die er ihr widmete.

Leseprobe:











Mir ist in geistigem Schauern
Eines Liedes Seele erwacht
Ein Lied voll heiligem Trauern
            Wie die süße Sternennacht

Es glüht, es ist unverloren
Noch ruft es wankend in mir.
Doch es sehnt sich zu werden geboren
Und zu rufen im Herzen nach dir.