Malwida war sehr
früh aufgewacht. Wie immer, wenn ein Wiedersehen mit Theodor bevorstand, war
sie aufgeregt. Den ganzen Winter über hatte sie ihn nicht gesehen, nur ab und
zu Briefe von ihm erhalten. Das war im vergangenen Sommer noch anders gewesen.
Bei literarischen Abenden im Salon der Mutter hatte er den zweiten Teil von Goethes
„Faust“ vorgetragen. Das konnte niemand so wie er. Niemand konnte die Zuhörer mit
Worten so fesseln wie Theodor. Allein seine Stimme. Sie bekam nie genug davon,
wenn er sprach. Doch seitdem er seine freiheitlichen Gedanken zu Religion und
Gesellschaft in Magazinen und Broschüren publizierte, redete man in der
lippischen Residenz über ihn. Und nichts Gutes. Vor allem in Malwidas Familie
war ihre Verbindung zu ihm ein Ärgernis. Von Bruder Carl von Meysenbug und Schwager
Funck von Senftenau heftig abgelehnt und für die Mutter war er längst nicht
mehr der erwünschte Partner für die Tochter, den sie sich drei Jahre zuvor noch
gut als Partner für die Tochter hätte vorstellen können. Verächtlich nannte man
ihn nun einen Demokraten, von dem die heiratsfähige Tochter sich fernzuhalten
hatte.
So hatte Malwida auch
niemanden im Hause über ihr Vorhaben an diesem Pfingsttage informiert. Zusammen
mit Theodor und dessen Schwester und Bruder plante sie einen Ausflug zum halb
fertig gestellten Hermannsdenkmal auf die Grotenburg. Ihrer Mutter hatte sie
nur gesagt, dass sie mit Freunden in der freien Natur spazieren gehe. Längst
hatte Ernestine von Meysenbug es aufgegeben,
von ihrer Tochter gemeinsame Kirchgänge zu erwarten. Sie und Laura
würden nicht verstehen, warum ihr diese Demonstration für das Denkmal zur Einheit
des deutschen Volkes so wichtig war, gehörten sie doch zu denjenigen in der
lippischen Residenz, die sich weigerten, den Erbauer Ernst von Bandel zu unterstützen. Ein Wunder, dass der Mann
überhaupt noch an dem Vorhaben weiter arbeitete. Wie lange noch? Das Geld war
ausgegangen, das Bauwerk war viel teurer geworden, als vorgesehen. Und die
Figur des Cheruskerfürsten Hermann? Das war die Frage. Immerhin war der Sockel fast
fertig gestellt. Man hatte das Bauwerk für diesen Festtag zur Besichtigung frei
gegeben.
Es war noch ruhig
auf der Hornschen Straße, kein Mensch zu sehen. Theodor würde über die
Leopoldstraße kommen. Doch es war noch früh. Malwida nutzte die Zeit und schlug
ihr Reisebuch auf. So nannte sie das Skizzenbuch jetzt. Auch ein Jahr nach der
Rückkehr aus der Provence war es noch immer ihr bester Freund. Erinnerungen an Monsieur
Hugo am Place de Palmiers, die bescheidene Fischerfamilie und deren glückliches
Leben, die einsam verträumte Abendstunde am Lac du Bourget und die zwei Bäume
im Wind am Rande der Passstraße zum Col Bayard, ein kleiner und ein großer, nachträglich
vorsichtig koloriert in warmen Grüntönen vor schneebedeckten Berggipfeln. Wie Morgenstern
es sie gelehrt hatte, zum Hintergrund hin heller werdend, um Tiefenwirkung zu
erzielen. Sie wusste selbst nicht, ob ihr das gelungen war, doch dieses Bild
gefiel ihr von allen am besten, weil es sie daran erinnerte, was sie dem großen
Weltgeist auf dem Weg zur Passhöhe gelobt hatte. Den unbequemen Weg wollte sie
gehen, der zur Wahrheit führte. Wie seltsam, dass sie das Bild gerade jetzt vor
sich hatte, gezeichnet am Pfingstfest vor einem Jahr. Zwei Bäume im eisigen
Wind warten auf den Frühling.
Endlich war es so
weit. Zusammen mit Schwester und Bruder bog ihr Apostel um die Ecke und schaute
gleich hoch zu ihrem Fenster. Sie winkte hinaus und lief die Treppe hinunter. Das
schwere Eichenportal schloss sie so leise wie möglich, damit niemand geweckt würde.
Theodor kam ihr schon entgegen. Sie
reichte ihm die Hände und ein Blick in seine Augen sagte, er hatte sie noch
lieb. In stiller Übereinkunft gingen sie entlang des Wassergrabens durch die
Allee, am Palaisgarten vorbei, bis sie die Wiesen vor der Stadt erreichten.
Dann durchquerten sie die Felder und wanderten zwischen jungen Birken und
Kiefern, bis sie den Pfad im Wald erreichten, der hinauf führte zum Denkmal auf
der Grotenburg. Elisabeth und Friedrich gingen
voraus, so dass sie nach einer Wegbiegung gar nicht mehr zu sehen waren.
Angenehm war es
hier im Schatten zwischen den schlanken Buchenstämmen, umgeben vom hellen Grün
der frischen Blätter. Als sich ihre Hände berührten und seine Finger sanft die
ihren umschlossen, fühlte sie sich glücklich wie lange nicht mehr. Ihr Traum am
Lac du Bourget war Wirklichkeit in dem Moment. Lass mich mit ihm weiter gehen,
immer weiter diesen Weg, lass es nie zu Ende sein, wünschte sie insgeheim.
„Elisabeth und Friedrich sind gar nicht mehr zu sehen“, sagte er und da war der Traum auch schon wieder zu Ende geträumt. Überall wurden sie beobachtet, nie waren sie allein.
„Elisabeth und Friedrich sind gar nicht mehr zu sehen“, sagte er und da war der Traum auch schon wieder zu Ende geträumt. Überall wurden sie beobachtet, nie waren sie allein.
„Wir werden sie
bald einholen.“
„Ist Ihre Frau
Mutter wohlauf, Malwida?“
Was sollte sie ihm
antworten? Die Mutter würde ihr am liebsten verbieten, ihn zu sehen. Sollte sie
ihm das sagen?
„Ach, Theodor“,
seufzte sie. „Mutter sorgt sich sehr um den Vater. Er zieht immer noch durch
die hessischen Lande mit dem alten Kurfürsten, während sein Sohn in Kassel die
Regierungsgeschäfte wahrnimmt. Er kommt nicht zur Ruhe und der Vater auch
nicht. Dabei sind sie doch auch nicht mehr die Jüngsten. Die Eltern sehnen die
guten Kasseler Jahre zurück.“
„Besser wird es
nicht, Malwida.“
Wie sanft seine
Stimme klang. Sie sah zu ihm hoch. Nein, sie konnte nicht von ihm lassen. Die
blauen Augen und das klare Profil. Er war nicht nur ein schöner Mann, er war ein
ganz besonderer Mann. Sie liebte ihn, dachte an die vielen Stunden in kleinen
Kreisen, in denen sie sich in so vielen Gedanken einig waren. Seine Ideen waren
ihre Ideen und umgekehrt.
„Wie sich auch für
uns die Zeiten verändert haben.“
„Die Luft ist kalt
geworden“, antwortete er und sie dachte an die zwei Bäume im eisigen Wind auf
dem Weg zur Passhöhe, den großen und den kleinen.
„Seitdem man Sie aus
der Ressource ausgeschlossen hat, ist es noch frostiger um uns herum.“
„Hach, der
Leseverein.“ Er lachte bitter. „Dabei sollte der Saal im Rathaus doch für
jedermann sein, so steht es in den Statuten. Da sehen Sie die Heuchelei, liebe
Freundin. Nur Leute ohne eigene Meinung dürfen da hinein.“
„Es sei denn, sie
sagen sie nicht.“ Malwida spürte Zorn aufsteigen. „Dabei haben Sie in Ihrem
Artikel zum Fürstenjubiläum nur gesagt, was viele denken. Das Volksfest hatte
diesen Namen nie und nimmer verdient. Das Volk war nur Staffage, wie sie es
geschrieben haben. So viel Geld für ein Feuerwerk. Wie vielen Armen hätte man
damit helfen können? Und das Theater verschlingt viel zu viel Geld. Sie haben
nur die Wahrheit geschrieben. Frank und frei.“
„Wie können Sie so
reden, Fräulein von Meysenbug? Was sagt Ihr Bruder dazu und Ihr Schwager, der
Intendant? Sind die doch in herausragender Stellung am Hofe.“
Den Zynismus in
seinem Ton konnte sie nur schwer ertragen. Dabei sagte er auch ihr nur, was er
dachte. Sollte sie ihm erzählen, dass Bruder Carl und Schwager Funck ihn einen
durch und durch unmoralischen Menschern nannten, ihr ständig Vorwürfe machten
und spotteten, wie sie sich so herablassen könne und sich mit einem Demokraten
einlassen? Er würde es klar ausdrücken, aber ihre Art war es nicht, fürchtete
sie doch zu sehr, jemandem Unrecht zu tun. Doch wenn sie recht überlegte, taten
die beiden Männer doch nicht nur Theodor Unrecht, sondern auch ihr, indem sie
vorschrieben, wen sie lieben sollte oder nicht lieben durfte.
„Diese Kluft,
Theodor, von der Sie geschrieben haben, zwischen denen, die in der Reitbahn
stundenlang tafeln und denen, die ihr karges Mittagessen in einem Topfe kochen,
die hat sich auch zwischen uns aufgetan.“
„Was soll ich dazu
sagen? Ich denke an manche Abende im Salon in Ihrem Palais. Schon vor dem Artikel
war ich ein Fremdkörper in Ihrem Hause.“
„Theodor“,
entrüstete sie sich.
„Sie haben getan,
was Sie konnten, Malwida, immer wieder die Wogen geglättet, mich beschwichtigt
in Ihren Briefen. Und ich weiß warum. Weil sie mich zu sehr lieben.“
„Sehen Sie, so ist
es auch. Ich war Ihnen nie gram, wenn sie so direkt die Wahrheit sprachen und
damit aneckten.“
„Das weiß ich,
Malwida, und weiß auch zu schätzen, dass Sie immer zu mir hielten und es
weiterhin tun. Doch vor Tatsachen können wir nicht die Augen verschließen. Sie
sind Aristokratin. Sie könnten in Adelskreisen eine gute Partie abgeben. Haben
Sie nicht immer gerne getanzt mit den jungen Prinzen im Ballsaal des Schlosses?“
„Das ist lange her,
Theodor. Machen Sie mich nicht wütend. Ich habe Ihnen doch erzählt von meiner
Erkenntnis beim Sonnenaufgang über dem Meer auf der Straße von Toulouse nach
Hyères. Warum glauben Sie mir denn nicht, dass mir der schwierige Weg lieber
ist als der bequeme, der mich vielleicht zum Anhängsel eines Mannes von Stand
macht. Ach, es ist doch schon alles schwierig genug.“
„Durch mich haben
Sie Schwierigkeiten, liebe Freundin, vergessen Sie das nicht. Nur durch mich.
Ohne mich sähe ihr Leben anders aus. Werden Sie denn überhaupt noch zu
Gesellschaften im fürstlichen Hause eingeladen?“
„Nicht mehr so
oft.“
„Das heißt,
überhaupt nicht. Man redet über uns beide in dieser beschaulichen Residenz. Unsere
Wanderung heute wird doch auch wieder ein böses Geschwätz geben.“
„Darüber gräme ich
mich überhaupt nicht. Meinen Sie, es macht mir Freude mit Menschen zusammen zu
sein, bei denen ich nicht denken darf, wovon ich überzeugt bin? Muss ich denn
an Orten sein, wo ich nicht sagen darf, was ich denke? Ich bin nicht mehr so
sanft und nachgiebig, wie man von mir glaubt.“
Er lachte, legte zärtlich
seinen Arm um ihre Schultern und sie ihren auf seine Hüfte. So gingen sie eng
umschlungen, so eng, wie möglich. Am Ende des Waldweges führte nach einer
Biegung ein breiter Weg geradeaus zum Denkmal. Der Bau aus hellgelbem Sandstein
leuchtete vor strahlend blauer Kulisse. Wie ein Tempel sah er aus mit den Säulen
rundherum. Rechts waren Schiebekarren und Schaufeln in einem Schuppen
abgestellt und auf dem Rasenplatz zu Füßen des Gebäudes hatten sich Menschen friedlich
plaudernd niedergelassen. Theodors Geschwister warteten dort schon und gemeinsam gingen sie um das
mächtige Gebäude herum.
„Es ist alles
schön“ sagte Theodor, „aber so recht
fehlt mir die Harmonie. Mir scheint, die einzelnen Teile passen nicht zusammen.
Die glatte runde Form des unteren Teils, die gotisch anmutenden Säulen, die
aber dann nicht in spitze gotische Formen münden, das Eichenlaub, Ich kriege
das nicht zusammen.“
„Die Figur des
Hermann fehlt ja auch noch. Dadurch wirkt das Denkmal noch unfertig, was es ja
auch ist“, meinte Malwida.
Über eine schmale
Wendeltreppe stiegen sie zwischen engen dunklen Mauern hinauf auf die Plattform.
Dort hatten sie freie Sicht und konnten über die Ebene der Senne weit
hinwegsehen. Malwida war, als könnte sie sogar fern im Westen den Rhein sehen. Sie
stellte sich vor, an der Hand des geliebten Mannes in diese Richtung zu gehen,
immer weiter, bis sie gefunden hätten, was sie sich mehr wünschten, als alles
andere auf der Welt. Der Mann, den sie liebte, stand still an ihrer Seite und
schaute ebenfalls in die Ferne, als hätte er gerade dieselben Gedanken von
Freiheit und Liebe.
Als die Töne einer
Kirchenglocke aus dem Tal heraufdrangen, nahm Elisabeth ihren Bruder an die
Hand und bat ihn, zu den Leuten zu sprechen, die dort so andächtig standen, als
würden sie darauf warten, dass jemand das tat.
„Die Menschen haben
es verdient, dass in dieser festlichen Stunde jemand zu ihnen spricht, Theodor“,
meinte auch Malwida.
„Und wer sollte das
tun? Etwa ein Prediger ohne Anstellung?“
„Wer könnte das
besser, als Sie, mein lieber Freund? Sie haben ihnen doch eine ganze Menge zu
sagen. Sie warten auf eine Botschaft. Denken Sie doch an Ihr Buch.“
Damit meinte sie seine
Schrift von der Zukunft des Christentums, an der er all die Wintermonate lang
gearbeitet und jetzt fertig gestellt hatte.
Nach einigem
Bedenken legte er seinen schwarzen Hut auf eine Bank, sodass ihm die dunklen
Locken auf die Schultern fielen, und schaute einige Landmänner und Handwerker
an, die in der Nähe standen. Als die
auch ihre Kopfbedeckung ablegten, begann
er seine Predigt. Er sprach vom Gott, der nicht in Tempeln wohne, sondern
überall auf der Welt sein Reich habe, und vom Geist des Pfingstfestes als dem
Geist der Freiheit und der Liebe und er redete von einer Welt, in der es
genügend Brot für alle gebe. Zum Schluss sprach er noch einige Worte zum
Denkmal und der damit verbundenen Verpflichtung zur Einigkeit der ganzen deutschen
Nation.
Die Umstehenden
verharrten noch eine Weile und nickten dem jungen Prediger zu, als wollten sie
ihm mitteilen, dass seine Worte ihnen Hoffnung auf bessere Zeiten gegeben
hatten. Ein Mann kam auf ihn zu, gab ihm die Hand und bedankte sich für die
feierliche Stunde. Aus Leipzig kam er, wo er eine Buchhandlung hatte, erfuhren
sie. Die Reise an die Weser hatte er gemacht, um das Grab seiner verstorbenen
Frau zu besuchen und fühlte sich nun getröstet.
Malwida fühlte sich
an den jungen Prediger in der Detmolder Stadtkirche erinnert, den Kandidaten
der Theologie nach dem Studium. Seine erste öffentliche Predigt. Einen schwarzen
Talar hatte er getragen und dunkle Locken bis auf die Schultern wie jetzt. Ganz
still war es zwischen den Bänken, als er seine Gedanken und Ideen zu einem
Leben in Freiheit und Liebe formulierte, so glänzend, wie sie es nie zuvor
erlebt hatte. Damit hatte er sie von ihren zerstörerischen Zweifeln befreit und
seitdem hatte er einen Platz ganz tief in ihrem Herzen.
Auf dem Heimweg
ging ihr Apostel schweigend an ihrer Seite. Sie fühlte, was ihn bedrückte. Was
nützte ihm der Zuspruch der Menschen, wenn diejenigen, die zu bestimmen hatten,
ihm keine Möglichkeiten zur Entfaltung seiner Fähigkeiten gaben? Sein Vater
hatte einmal als junger Prediger in einer lippischen Landgemeinde begonnen und
war jetzt Generalsuperintendent des Fürstentums. So eine Laufbahn hätte er für
Theodor auch gewünscht. Doch daran war gar nicht zu denken, zu klar seine
Überzeugungen, zu ehrlich und zu offen vorgetragen, seine Vorstellungen von
Erneuerungen in Kirche und Staat.
Die Geschwister
waren wieder voraus gegangen. Es war schwierig ein Gespräch mit ihm zu
beginnen. Sie nahm seine Hand.
„Wenn es doch so
einfach wäre“, seufzte er.
„Warum machen Sie
es sich so schwer?“
„Malwida, habe ich
den Menschen Hoffnungen gemacht, die nicht erfüllt werden können?“
„Sie haben den
Menschen sehr viel gegeben, Theodor.“
„Nein, nein, etwas
anderes brauchen sie.“
„Haben Sie denn
nicht ihre Augen gesehen? Hoffnung und Zuversicht waren darin zu lesen.“
„Von Gerechtigkeit habe
ich gesprochen. Gibt es die denn in diesem Lande?“
„Wir müssen Geduld
haben.“
„Meine Geduld ist
erschöpft, lange schon.“
Unter einer großen
Kastanie im Palaisgarten blieb sie stehen. Hier hatte sie oft gesessen, auf die
Stadt hinunter geschaut, gezeichnet und Gedichte geschrieben. Sollte denn
dieser schöne Tag einfach davon fliegen?
„Sehen Sie doch die
herrliche Natur, Theodor. Vögel zwitschern und bauen Nester.“
„Und die Menschen
bauen Häuser, das wollen Sie doch sagen.“
„Immer wieder tun
sie das. Sie geben die Hoffnung nicht auf.“
„Doch ist dort
Gerechtigkeit? Nein. Rauchende Öfen in niedrigen Stuben und schreiende Kinder. Was
nützt den Menschen die herrliche Natur, wenn sie nicht wissen, wie sie den
nächsten Tag überleben sollen. So ist es doch in unserem Lande. Die meisten
leiden Not. Allergrößte Not. Sie wissen es doch selbst von Ihren Besuchen bei
den armen Familien, Malwida. “
Ein Ausdruck von
Härte war in seinen Augen.
„Das ist schon
wahr. Doch es braucht Zeit, Theodor.“
„Sehen wir es doch,
wie es ist. Wenigen geht es gut und die vielen anderen sind bitterarm. Dabei
müssen die Armen von dem Wenigen den Reichen noch abgeben. Ist das denn gerecht?
Freiheit und Liebe ist nur möglich, wenn es allen Menschen gut geht.“
Ja, das war ein
weites Feld. Sie waren den Weg hinunter gegangen bis zur Hornschen Straße und erreichten
das Meysenbugsche Palais.
„Wie soll das nur
weiter gehen mit uns?“, sagte Malwida traurig.
Sanft nahm er ihre
Arme, zog sie an sich. „Wenn es hier nur nicht so eng wäre. Ich bin mir sicher,
dass tausend Augen uns jetzt in diesem Moment aus den Fenstern beobachten.
Diese erbärmliche Feigheit ödet mich an.“
„Mir geht es nicht
anders. Was sollen wir nur tun, Theodor?“
„Wir haben unsere
Liebe. Und doch. Wir brauchen Freiheit.“
„Von der sind wir
weit entfernt.“
„In dieser Enge
kann Liebe nicht reifen, Malwida.“
aus: Wenn wir von Liebe reden (ebook und print)
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