Mittwoch, 22. Mai 2013

1882 Parsifal in Bayreuth






Der Sommer 1882 rief mich nun wieder nach Bayreuth und zwar schon früh, um allen Proben zu Parsifal beizuwohnen, der zum ersten Mal aufgeführt werden sollte. Als ich einige Jahre früher, im Sommer 78, zu Besuch bei Wagners war, kam der Meister eines Tags aus seinem Arbeitszimmer oben im Haus zu uns herunter und sagte: „So, nun habe ich meinen zweiten Akt fertig gemacht. Das ist mir schwer geworden, so etwas schreib ich nicht wieder.“ Dann hörte ich Liszt aus dem ersten Akt spielen und drei Jahre später in Neapel, wie erwähnt, die erste Gralsscene singen. Nun war das Werk vollendet und zur Aufführung bereitet und um nichts in der Welt hätte ich versäumen mögen, dieser ersten Aufführung beizuwohnen. Schon im Jahr vorher in Neapel hatte mich Joukoffski, der ein Haus in der Nähe von de Hause Wagners gemietet hatte, aufgefordert, mich in dem Parterre, welches er nicht benutzte, einzumieten, und ich war gern darauf eingegangen, da ausser mir nur noch Stein im Hause wohnte, und dies mir also ein sehr sympathisches Trio wurde, welches die Stimmung zuliess, wie sie zur Anhörung des erhabenen Kunstwerks einzig sein musste. Wie sich nun in den Proben nach und nach diese Wunderwelt der Töne vor mir auftat, steigerte sich von Tag zu Tag meine Ergriffenheit. In der Generalprobe, wo nur wenige Eingeweihte zugelassen waren, sass ich neben Liszt, welcher die Partitur vor sich hatte; plötzlich in Ekstase ergriff er meinen Arm und sagte ganz ausser sich: „Ce n’est pas à croire à ses oreillies!“ Seine älteste Enkelin, die feurige Daniela von Bülow, die auf der anderen Seite neben mir sass, sagte, als das Liebesmahl im Gralstempel zu Ende war und die 3 Ritter sich den Bruderkuss gaben: „Ich wollte, ich hätte einen Todfeind, um ihm in diesem Moment zu vergeben.“ Da waren alles Zeugnisse der Wirkung, die von diesem Werke ausging und die sich durch das Anhören sämtlicher Aufführungen nicht abschwächte, sondern eher noch wuchs.

[…]

Auszug aus Malwida von Meysenbug, Lebensabend einer Idealistin,  März 1898, Verlag Schuster und Löffler Berlin und Leipzig 1903, Seite 206 / 207

Auf den Spuren von Richard Wagner in Bayreuth

1882 Parsifal in Bayreuth






Der Sommer 1882 rief mich nun wieder nach Bayreuth und zwar schon früh, um allen Proben zu Parsifal beizuwohnen, der zum ersten Mal aufgeführt werden sollte. Als ich einige Jahre früher, im Sommer 78, zu Besuch bei Wagners war, kam der Meister eines Tags aus seinem Arbeitszimmer oben im Haus zu uns herunter und sagte: „So, nun habe ich meinen zweiten Akt fertig gemacht. Das ist mir schwer geworden, so etwas schreib ich nicht wieder.“ Dann hörte ich Liszt aus dem ersten Akt spielen und drei Jahre später in Neapel, wie erwähnt, die erste Gralsscene singen. Nun war das Werk vollendet und zur Aufführung bereitet und um nichts in der Welt hätte ich versäumen mögen, dieser ersten Aufführung beizuwohnen. Schon im Jahr vorher in Neapel hatte mich Joukoffski, der ein Haus in der Nähe von de Hause Wagners gemietet hatte, aufgefordert, mich in dem Parterre, welches er nicht benutzte, einzumieten, und ich war gern darauf eingegangen, da ausser mir nur noch Stein im Hause wohnte, und dies mir also ein sehr sympathisches Trio wurde, welches die Stimmung zuliess, wie sie zur Anhörung des erhabenen Kunstwerks einzig sein musste. Wie sich nun in den Proben nach und nach diese Wunderwelt der Töne vor mir auftat, steigerte sich von Tag zu Tag meine Ergriffenheit. In der Generalprobe, wo nur wenige Eingeweihte zugelassen waren, sass ich neben Liszt, welcher die Partitur vor sich hatte; plötzlich in Ekstase ergriff er meinen Arm und sagte ganz ausser sich: „Ce n’est pas à croire à ses oreillies!“ Seine älteste Enkelin, die feurige Daniela von Bülow, die auf der anderen Seite neben mir sass, sagte, als das Liebesmahl im Gralstempel zu Ende war und die 3 Ritter sich den Bruderkuss gaben: „Ich wollte, ich hätte einen Todfeind, um ihm in diesem Moment zu vergeben.“ Da waren alles Zeugnisse der Wirkung, die von diesem Werke ausging und die sich durch das Anhören sämtlicher Aufführungen nicht abschwächte, sondern eher noch wuchs.

[…]

Auszug aus Malwida von Meysenbug, Lebensabend einer Idealistin,  März 1898, Verlag Schuster und Löffler Berlin und Leipzig 1903, Seite 206 / 207

Auf den Spuren von Richard Wagner in Bayreuth

Donnerstag, 16. Mai 2013

1846 Pfingstwanderung zum Hermannsdenkmal



Malwida war sehr früh aufgewacht. Wie immer, wenn ein Wiedersehen mit Theodor bevorstand, war sie aufgeregt. Den ganzen Winter über hatte sie ihn nicht gesehen, nur ab und zu Briefe von ihm erhalten. Das war im vergangenen Sommer noch anders gewesen. Bei literarischen Abenden im Salon der Mutter hatte er den zweiten Teil von Goethes „Faust“ vorgetragen. Das konnte niemand so wie er. Niemand konnte die Zuhörer mit Worten so fesseln wie Theodor. Allein seine Stimme. Sie bekam nie genug davon, wenn er sprach. Doch seitdem er seine freiheitlichen Gedanken zu Religion und Gesellschaft in Magazinen und Broschüren publizierte, redete man in der lippischen Residenz über ihn. Und nichts Gutes. Vor allem in Malwidas Familie war ihre Verbindung zu ihm ein Ärgernis. Von Bruder Carl von Meysenbug und Schwager Funck von Senftenau heftig abgelehnt und für die Mutter war er längst nicht mehr der erwünschte Partner für die Tochter, den sie sich drei Jahre zuvor noch gut als Partner für die Tochter hätte vorstellen können. Verächtlich nannte man ihn nun einen Demokraten, von dem die heiratsfähige Tochter sich fernzuhalten hatte.
So hatte Malwida auch niemanden im Hause über ihr Vorhaben an diesem Pfingsttage informiert. Zusammen mit Theodor und dessen Schwester und Bruder plante sie einen Ausflug zum halb fertig gestellten Hermannsdenkmal auf die Grotenburg. Ihrer Mutter hatte sie nur gesagt, dass sie mit Freunden in der freien Natur spazieren gehe. Längst hatte Ernestine von Meysenbug es aufgegeben,  von ihrer Tochter gemeinsame Kirchgänge zu erwarten. Sie und Laura würden nicht verstehen, warum ihr diese Demonstration für das Denkmal zur Einheit des deutschen Volkes so wichtig war, gehörten sie doch zu denjenigen in der lippischen Residenz, die sich weigerten, den Erbauer Ernst von Bandel  zu unterstützen. Ein Wunder, dass der Mann überhaupt noch an dem Vorhaben weiter arbeitete. Wie lange noch? Das Geld war ausgegangen, das Bauwerk war viel teurer geworden, als vorgesehen. Und die Figur des Cheruskerfürsten Hermann? Das war die Frage. Immerhin war der Sockel fast fertig gestellt. Man hatte das Bauwerk für diesen Festtag zur Besichtigung frei gegeben.
Es war noch ruhig auf der Hornschen Straße, kein Mensch zu sehen. Theodor würde über die Leopoldstraße kommen. Doch es war noch früh. Malwida nutzte die Zeit und schlug ihr Reisebuch auf. So nannte sie das Skizzenbuch jetzt. Auch ein Jahr nach der Rückkehr aus der Provence war es noch immer ihr bester Freund. Erinnerungen an Monsieur Hugo am Place de Palmiers, die bescheidene Fischerfamilie und deren glückliches Leben, die einsam verträumte Abendstunde am Lac du Bourget und die zwei Bäume im Wind am Rande der Passstraße zum Col Bayard, ein kleiner und ein großer, nachträglich vorsichtig koloriert in warmen Grüntönen vor schneebedeckten Berggipfeln. Wie Morgenstern es sie gelehrt hatte, zum Hintergrund hin heller werdend, um Tiefenwirkung zu erzielen. Sie wusste selbst nicht, ob ihr das gelungen war, doch dieses Bild gefiel ihr von allen am besten, weil es sie daran erinnerte, was sie dem großen Weltgeist auf dem Weg zur Passhöhe gelobt hatte. Den unbequemen Weg wollte sie gehen, der zur Wahrheit führte. Wie seltsam, dass sie das Bild gerade jetzt vor sich hatte, gezeichnet am Pfingstfest vor einem Jahr. Zwei Bäume im eisigen Wind warten auf den Frühling.
Endlich war es so weit. Zusammen mit Schwester und Bruder bog ihr Apostel um die Ecke und schaute gleich hoch zu ihrem Fenster. Sie winkte hinaus und lief die Treppe hinunter. Das schwere Eichenportal schloss sie so leise wie möglich, damit niemand geweckt würde.  Theodor kam ihr schon entgegen. Sie reichte ihm die Hände und ein Blick in seine Augen sagte, er hatte sie noch lieb. In stiller Übereinkunft gingen sie entlang des Wassergrabens durch die Allee, am Palaisgarten vorbei, bis sie die Wiesen vor der Stadt erreichten. Dann durchquerten sie die Felder und wanderten zwischen jungen Birken und Kiefern, bis sie den Pfad im Wald erreichten, der hinauf führte zum Denkmal auf der Grotenburg. Elisabeth und Friedrich gingen  voraus, so dass sie nach einer Wegbiegung gar nicht mehr zu sehen waren.
Angenehm war es hier im Schatten zwischen den schlanken Buchenstämmen, umgeben vom hellen Grün der frischen Blätter. Als sich ihre Hände berührten und seine Finger sanft die ihren umschlossen, fühlte sie sich glücklich wie lange nicht mehr. Ihr Traum am Lac du Bourget war Wirklichkeit in dem Moment. Lass mich mit ihm weiter gehen, immer weiter diesen Weg, lass es nie zu Ende sein, wünschte sie insgeheim.
„Elisabeth und Friedrich sind gar nicht mehr zu sehen“, sagte er und da war der Traum auch schon wieder zu Ende geträumt. Überall wurden sie beobachtet, nie waren sie allein.
„Wir werden sie bald einholen.“
„Ist Ihre Frau Mutter wohlauf, Malwida?“
Was sollte sie ihm antworten? Die Mutter würde ihr am liebsten verbieten, ihn zu sehen. Sollte sie ihm das sagen?
„Ach, Theodor“, seufzte sie. „Mutter sorgt sich sehr um den Vater. Er zieht immer noch durch die hessischen Lande mit dem alten Kurfürsten, während sein Sohn in Kassel die Regierungsgeschäfte wahrnimmt. Er kommt nicht zur Ruhe und der Vater auch nicht. Dabei sind sie doch auch nicht mehr die Jüngsten. Die Eltern sehnen die guten Kasseler Jahre zurück.“
„Besser wird es nicht, Malwida.“
Wie sanft seine Stimme klang. Sie sah zu ihm hoch. Nein, sie konnte nicht von ihm lassen. Die blauen Augen und das klare Profil. Er war nicht nur ein schöner Mann, er war ein ganz besonderer Mann. Sie liebte ihn, dachte an die vielen Stunden in kleinen Kreisen, in denen sie sich in so vielen Gedanken einig waren. Seine Ideen waren ihre Ideen und umgekehrt.
„Wie sich auch für uns die Zeiten verändert haben.“
„Die Luft ist kalt geworden“, antwortete er und sie dachte an die zwei Bäume im eisigen Wind auf dem Weg zur Passhöhe, den großen und den kleinen.
„Seitdem man Sie aus der Ressource ausgeschlossen hat, ist es noch frostiger um uns herum.“
„Hach, der Leseverein.“ Er lachte bitter. „Dabei sollte der Saal im Rathaus doch für jedermann sein, so steht es in den Statuten. Da sehen Sie die Heuchelei, liebe Freundin. Nur Leute ohne eigene Meinung dürfen da hinein.“
„Es sei denn, sie sagen sie nicht.“ Malwida spürte Zorn aufsteigen. „Dabei haben Sie in Ihrem Artikel zum Fürstenjubiläum nur gesagt, was viele denken. Das Volksfest hatte diesen Namen nie und nimmer verdient. Das Volk war nur Staffage, wie sie es geschrieben haben. So viel Geld für ein Feuerwerk. Wie vielen Armen hätte man damit helfen können? Und das Theater verschlingt viel zu viel Geld. Sie haben nur die Wahrheit geschrieben. Frank und frei.“
„Wie können Sie so reden, Fräulein von Meysenbug? Was sagt Ihr Bruder dazu und Ihr Schwager, der Intendant? Sind die doch in herausragender Stellung am Hofe.“
Den Zynismus in seinem Ton konnte sie nur schwer ertragen. Dabei sagte er auch ihr nur, was er dachte. Sollte sie ihm erzählen, dass Bruder Carl und Schwager Funck ihn einen durch und durch unmoralischen Menschern nannten, ihr ständig Vorwürfe machten und spotteten, wie sie sich so herablassen könne und sich mit einem Demokraten einlassen? Er würde es klar ausdrücken, aber ihre Art war es nicht, fürchtete sie doch zu sehr, jemandem Unrecht zu tun. Doch wenn sie recht überlegte, taten die beiden Männer doch nicht nur Theodor Unrecht, sondern auch ihr, indem sie vorschrieben, wen sie lieben sollte oder nicht lieben durfte.
„Diese Kluft, Theodor, von der Sie geschrieben haben, zwischen denen, die in der Reitbahn stundenlang tafeln und denen, die ihr karges Mittagessen in einem Topfe kochen, die hat sich auch zwischen uns aufgetan.“
„Was soll ich dazu sagen? Ich denke an manche Abende im Salon in Ihrem Palais. Schon vor dem Artikel war ich ein Fremdkörper in Ihrem Hause.“
„Theodor“, entrüstete sie sich.
„Sie haben getan, was Sie konnten, Malwida, immer wieder die Wogen geglättet, mich beschwichtigt in Ihren Briefen. Und ich weiß warum. Weil sie mich zu sehr lieben.“
„Sehen Sie, so ist es auch. Ich war Ihnen nie gram, wenn sie so direkt die Wahrheit sprachen und damit aneckten.“
„Das weiß ich, Malwida, und weiß auch zu schätzen, dass Sie immer zu mir hielten und es weiterhin tun. Doch vor Tatsachen können wir nicht die Augen verschließen. Sie sind Aristokratin. Sie könnten in Adelskreisen eine gute Partie abgeben. Haben Sie nicht immer gerne getanzt mit den jungen Prinzen im Ballsaal des Schlosses?“
„Das ist lange her, Theodor. Machen Sie mich nicht wütend. Ich habe Ihnen doch erzählt von meiner Erkenntnis beim Sonnenaufgang über dem Meer auf der Straße von Toulouse nach Hyères. Warum glauben Sie mir denn nicht, dass mir der schwierige Weg lieber ist als der bequeme, der mich vielleicht zum Anhängsel eines Mannes von Stand macht. Ach, es ist doch schon alles schwierig genug.“
„Durch mich haben Sie Schwierigkeiten, liebe Freundin, vergessen Sie das nicht. Nur durch mich. Ohne mich sähe ihr Leben anders aus. Werden Sie denn überhaupt noch zu Gesellschaften im fürstlichen Hause eingeladen?“
„Nicht mehr so oft.“
„Das heißt, überhaupt nicht. Man redet über uns beide in dieser beschaulichen Residenz. Unsere Wanderung heute wird doch auch wieder ein böses Geschwätz geben.“
„Darüber gräme ich mich überhaupt nicht. Meinen Sie, es macht mir Freude mit Menschen zusammen zu sein, bei denen ich nicht denken darf, wovon ich überzeugt bin? Muss ich denn an Orten sein, wo ich nicht sagen darf, was ich denke? Ich bin nicht mehr so sanft und nachgiebig, wie man von mir glaubt.“
Er lachte, legte zärtlich seinen Arm um ihre Schultern und sie ihren auf seine Hüfte. So gingen sie eng umschlungen, so eng, wie möglich. Am Ende des Waldweges führte nach einer Biegung ein breiter Weg geradeaus zum Denkmal. Der Bau aus hellgelbem Sandstein leuchtete vor strahlend blauer Kulisse. Wie ein Tempel sah er aus mit den Säulen rundherum. Rechts waren Schiebekarren und Schaufeln in einem Schuppen abgestellt und auf dem Rasenplatz zu Füßen des Gebäudes hatten sich Menschen friedlich plaudernd niedergelassen. Theodors Geschwister warteten dort  schon und gemeinsam gingen sie um das mächtige Gebäude herum.
„Es ist alles schön“ sagte Theodor,  „aber so recht fehlt mir die Harmonie. Mir scheint, die einzelnen Teile passen nicht zusammen. Die glatte runde Form des unteren Teils, die gotisch anmutenden Säulen, die aber dann nicht in spitze gotische Formen münden, das Eichenlaub, Ich kriege das nicht zusammen.“
„Die Figur des Hermann fehlt ja auch noch. Dadurch wirkt das Denkmal noch unfertig, was es ja auch ist“, meinte Malwida.
Über eine schmale Wendeltreppe stiegen sie zwischen engen dunklen Mauern hinauf auf die Plattform. Dort hatten sie freie Sicht und konnten über die Ebene der Senne weit hinwegsehen. Malwida war, als könnte sie sogar fern im Westen den Rhein sehen. Sie stellte sich vor, an der Hand des geliebten Mannes in diese Richtung zu gehen, immer weiter, bis sie gefunden hätten, was sie sich mehr wünschten, als alles andere auf der Welt. Der Mann, den sie liebte, stand still an ihrer Seite und schaute ebenfalls in die Ferne, als hätte er gerade dieselben Gedanken von Freiheit und Liebe.
Als die Töne einer Kirchenglocke aus dem Tal heraufdrangen, nahm Elisabeth ihren Bruder an die Hand und bat ihn, zu den Leuten zu sprechen, die dort so andächtig standen, als würden sie darauf warten, dass jemand das tat.
„Die Menschen haben es verdient, dass in dieser festlichen Stunde jemand zu ihnen spricht, Theodor“, meinte auch Malwida.
„Und wer sollte das tun? Etwa ein Prediger ohne Anstellung?“
„Wer könnte das besser, als Sie, mein lieber Freund? Sie haben ihnen doch eine ganze Menge zu sagen. Sie warten auf eine Botschaft. Denken Sie doch an Ihr Buch.“
Damit meinte sie seine Schrift von der Zukunft des Christentums, an der er all die Wintermonate lang gearbeitet und jetzt fertig gestellt hatte.
Nach einigem Bedenken legte er seinen schwarzen Hut auf eine Bank, sodass ihm die dunklen Locken auf die Schultern fielen, und schaute einige Landmänner und Handwerker an, die in  der Nähe standen. Als die auch ihre Kopfbedeckung ablegten,  begann er seine Predigt. Er sprach vom Gott, der nicht in Tempeln wohne, sondern überall auf der Welt sein Reich habe, und vom Geist des Pfingstfestes als dem Geist der Freiheit und der Liebe und er redete von einer Welt, in der es genügend Brot für alle gebe. Zum Schluss sprach er noch einige Worte zum Denkmal und der damit verbundenen Verpflichtung zur Einigkeit der ganzen deutschen Nation.
Die Umstehenden verharrten noch eine Weile und nickten dem jungen Prediger zu, als wollten sie ihm mitteilen, dass seine Worte ihnen Hoffnung auf bessere Zeiten gegeben hatten. Ein Mann kam auf ihn zu, gab ihm die Hand und bedankte sich für die feierliche Stunde. Aus Leipzig kam er, wo er eine Buchhandlung hatte, erfuhren sie. Die Reise an die Weser hatte er gemacht, um das Grab seiner verstorbenen Frau zu besuchen und fühlte sich nun getröstet.
Malwida fühlte sich an den jungen Prediger in der Detmolder Stadtkirche erinnert, den Kandidaten der Theologie nach dem Studium. Seine erste öffentliche Predigt. Einen schwarzen Talar hatte er getragen und dunkle Locken bis auf die Schultern wie jetzt. Ganz still war es zwischen den Bänken, als er seine Gedanken und Ideen zu einem Leben in Freiheit und Liebe formulierte, so glänzend, wie sie es nie zuvor erlebt hatte. Damit hatte er sie von ihren zerstörerischen Zweifeln befreit und seitdem hatte er einen Platz ganz tief in ihrem Herzen.
Auf dem Heimweg ging ihr Apostel schweigend an ihrer Seite. Sie fühlte, was ihn bedrückte. Was nützte ihm der Zuspruch der Menschen, wenn diejenigen, die zu bestimmen hatten, ihm keine Möglichkeiten zur Entfaltung seiner Fähigkeiten gaben? Sein Vater hatte einmal als junger Prediger in einer lippischen Landgemeinde begonnen und war jetzt Generalsuperintendent des Fürstentums. So eine Laufbahn hätte er für Theodor auch gewünscht. Doch daran war gar nicht zu denken, zu klar seine Überzeugungen, zu ehrlich und zu offen vorgetragen, seine Vorstellungen von Erneuerungen in Kirche und Staat.
Die Geschwister waren wieder voraus gegangen. Es war schwierig ein Gespräch mit ihm zu beginnen. Sie nahm seine Hand.
„Wenn es doch so einfach wäre“, seufzte er.
„Warum machen Sie es sich so schwer?“
„Malwida, habe ich den Menschen Hoffnungen gemacht, die nicht erfüllt werden können?“
„Sie haben den Menschen sehr viel gegeben, Theodor.“
„Nein, nein, etwas anderes brauchen sie.“ 
„Haben Sie denn nicht ihre Augen gesehen? Hoffnung und Zuversicht waren darin zu lesen.“
„Von Gerechtigkeit habe ich gesprochen. Gibt es die denn in diesem Lande?“
„Wir müssen Geduld haben.“
„Meine Geduld ist erschöpft, lange schon.“
Unter einer großen Kastanie im Palaisgarten blieb sie stehen. Hier hatte sie oft gesessen, auf die Stadt hinunter geschaut, gezeichnet und Gedichte geschrieben. Sollte denn dieser schöne Tag einfach davon fliegen?
„Sehen Sie doch die herrliche Natur, Theodor. Vögel zwitschern und bauen Nester.“
„Und die Menschen bauen Häuser, das wollen Sie doch sagen.“
„Immer wieder tun sie das. Sie geben die Hoffnung nicht auf.“
„Doch ist dort Gerechtigkeit? Nein. Rauchende Öfen in niedrigen Stuben und schreiende Kinder. Was nützt den Menschen die herrliche Natur, wenn sie nicht wissen, wie sie den nächsten Tag überleben sollen. So ist es doch in unserem Lande. Die meisten leiden Not. Allergrößte Not. Sie wissen es doch selbst von Ihren Besuchen bei den armen Familien, Malwida. “
Ein Ausdruck von Härte war in seinen Augen.
„Das ist schon wahr. Doch es braucht Zeit, Theodor.“
„Sehen wir es doch, wie es ist. Wenigen geht es gut und die vielen anderen sind bitterarm. Dabei müssen die Armen von dem Wenigen den Reichen noch abgeben. Ist das denn gerecht? Freiheit und Liebe ist nur möglich, wenn es allen Menschen gut geht.“
Ja, das war ein weites Feld. Sie waren den Weg hinunter gegangen bis zur Hornschen Straße und erreichten das Meysenbugsche Palais.
„Wie soll das nur weiter gehen mit uns?“, sagte Malwida traurig.
Sanft nahm er ihre Arme, zog sie an sich. „Wenn es hier nur nicht so eng wäre. Ich bin mir sicher, dass tausend Augen uns jetzt in diesem Moment aus den Fenstern beobachten. Diese erbärmliche Feigheit ödet mich an.“
„Mir geht es nicht anders. Was sollen wir nur tun, Theodor?“
„Wir haben unsere Liebe. Und doch. Wir brauchen Freiheit.“
„Von der sind wir weit entfernt.“
„In dieser Enge kann Liebe nicht reifen, Malwida.“ 

aus: Wenn wir von Liebe reden (ebook und print)