Im Frühling sollten wir zurückgehen in unsere kleine Residenz im Norden.
Es war mir ein herzzerreissender Schmerz, für den ich keine Worte hatte, den
Stunden entsagen zu müssen, die mir so viel Glück gaben; es schien, als wenn
ich dem Heil meiner Seele entsagen müsste. Ausserdem bot mir auch die Stadt, in
der wir jetzt lebten [Frankfurt am Main], trotz unseres zurückgezogenen Lebens
eine Menge geistiger Hülfsquellen, nach denen ich immer mehr Verlangen trug.
Unsere kleine Residenz, die ich sonst so geliebt hatte, erschien mir jetzt mit
ihren engen gesellschaftlichen Beziehungen wie ein Exil. Dennoch musste es
geschieden sein. Der einzige Trost, den ich zu finden wusste, war, meinen
Lehrer [Morgenstern] zu bitten, einen künstlerischen Briefwechsel mit mir zu
unterhalten, was er auch versprach, da er mein Scheiden auch herzlich beklagte.
Meine erste Sorge, nach der Rückkehr in unsere nunmehrige kleine Heimat, war
die Einrichtung eines Ateliers für mich, in welchem ich, allein und versunken
in die Kunst, Stunden des Glücks und des angestrengten Studiums verbrachte. Ich
ging auch aus, um nach der Natur zu zeichnen; aber die Landschaft, die ich vor
Augen hatte, gefiel mir nicht mehr, seit ich mich an den unaussprechlichen Reiz
der südlichen Natur, die ich aus den Bildern meines Meisters kannte, gewöhnt
hatte. Ausnahmen hiervon waren jedoch die Bäume und die Waldpartien, mit ihrem
geheimnisvollen Halbdunkel und den Sonnenstreifen, welche durch das Laub fielen
und auf dem Moosboden spielten. Diese sind die wahre Poesie der Landschaft im
nördlichen Deutschland, und das war es vielleicht, weshalb die Völker dieser
Gegenden in ihrem Kindesalter die Wälder und Bäume zu Heiligtümern stempelten
und ihren Wodan im heiligen Eichenhain verehrten. Aber für die eigentliche
Landschaft erschien mir nur das Grün nicht malerisch. Blau, Violett, Gelb, Rot
geben jene Farbentöne, die im Süden dem Auge wohlgefallen. Vielleicht kommt es
daher, dass auch der hohe Norden, wo die nackten Felsen, der Schnee und das
tiefblaue Meer vorherrschen, malerischer ist, als die gesegneten Länder der
Mitte, wo das Grün überwiegt.
Ausserdem war ich aber auch noch in der
kleinen Stadt zu sehr der Hülfsmittel zur Entwicklung beraubt, denn es war da
nicht allein keine Galerie, sondern nicht einmal ein gutes Bild, keine Künstler
und kauf einiger wenige Personen, die wussten, was Malerei ist. Meine ewig
suchende Natur griff wiedr nach anderen Auswegen. Die alten religiösen Fragen
erwachten in neuer Weise. Ich fürchtete die Kritik nicht mehr; ich ging nur
äusserst selten noch in die Kirche, weil ich keine neuen Gedanken, keine
wirkliche Erleuchtung dort fand. Eines Tages sagte man mir, dass der älteste
Sohn meines Religionslehrers, der sich gerade während der Universitätsferien zu
Haus befände, am folgenden Sonntag in der Kirche predigen würde, da er Theolog
sei wie sein Vater. Ich ging zur Kirche, um zu sehen, was aus dem blassen
stillen Knaben, den ich einst im Zimmer seiner Mutter hatte arbeiten sehen,
geworden sei. Nach dem Gesang der Gemeinde, welcher der Predigt vorausgeht,
stieg ein junger Mann, in schwarzem Talare, auf die Kanzel, beugte das Haupt
und verblieb einige Minuten in stillem Gebet. Ich hatte Zeit ihn anzusehen. Er
war groß wie sein Vater, aber sein Kopf hatte einen Typus, der in jenen
Gegenden, wo er geboren war nicht häufig ist. Sein Gesicht war bleich mit
scharf geschnittenen, edlen Zügen, wie man sie bei den südlichen Rassen findet.
Lange und dichte schwarze Haare fielen ihm bis auf die Schultern; seine Stirn
war die der Denker, der Märtyrer. Als er zu sprechen begann, wurde ich
sympathisch berührt durch den Klang seiner tiefen, sonoren und doch angenehmen
Stimme. Bald aber vergaß ich alles andere über den Inhalt seiner Predigt. Das
war nicht mehr die sentimentale Moral, noch die steife kalte Unbestimmtheit der
protestantischen Orthodoxie, wie beim Vater. das war ein jugendlicher
Bergstrom, der daherbrauste voller Poesie und neuer belebender Gedanken. Das
war die reine Flamme einer ganz idealen Seele, gepaart mit der Stärke einer
mächtigen Intelligenz, die der schärfsten Kritik fähig war. Das war ein junger
Herder, welcher, indem er das Evangelium predigte, die höchsten philosophischen
Ideen zur Geschichte der Menschheit entwickelte. Ich war auf das tiefste und
glücklichste bewegt. Nach Hause zurückgekehrt, erzählte ich meiner Mutter von
dem Gehörten und sagte ihr mit Enthusiasmus: „Wenn dieser junge Mann hier
bleibt, so wird dies kleine Land eine grosse Zukunft haben.“
Einige Tage nachher hing meine Mutter abends
zur Ressource [Raum im Detmolder Rathaus für gesellschaftliche
Veranstaltungen]: ich ging nicht mit. Mein früherer Lehrer hatte ihr seinen
Sohn vorgestellt, und sie kam ebenso enthusiasmiert zurück, wie ich aus der
Kirche gekommen war. „Er ist das Ideal eines jungen Mannes,“ sagte sie. Ich
bedauerte, nicht dort gewesen zu sein und doch wünschte ich beinah nicht,
meinem jungen Apostel auf neutralem Wege zu begegnen. Er hatte in meiner
Phantasie schon Platz genommen als der inspirierte Prophet einer neuen
Wahrheit. Ich sah ihn in dem Jahr [1843] auch nicht wieder, denn er kehrte auf
die Universität zurück.
Ich aber fühlte, dass ich das bloss kontemplative
Leben verlassen müsse, um zur Tat zu kommen. Die heiligen Freuden, die ich beim
Malen genoss, schienen mir zu egoistisch, wenn ich nicht zugleich mich des
Leidens erbarme, das ich überall um mich sah; wenn das Mitleid, welches mir die
wahre Essenz des Christentums zu sein schien, sich nicht in Taten verwirkliche.
Ich beschloss zu ersuchen, einen Verein der Arbeit für Arme zu gründen. Ich
sprach darüber mit den jungen Damen meiner Bekanntschaft. Man zuckte die
Achseln, man zweifelte am Erfolg, aber es gelang mir, eine kleine Anzahl zu
vereinigen, und wir fingen mit einer ganz einfachen Organisation an. Man
vereinigte sich einmal wöchentlich in den Häusern der Beteiligten, und man
legte jedes Mal einen so kleinen Betrag in die Vereinskasse, dass es niemand
lästig fiel. Diese Beiträge dienten dazu, das Material zur Arbeit zu kaufen;
sie wurden durch freiwillige Gaben noch erhöht. An den Vereinstagen arbeitete
man so das ganze Jahr hindurch Kleidungsstücke für die Armen und verteilte sie
am Weihnachtsabend. Von Kindheit auf hatte ich diesen Tag der intimsten
häuslichen Freude, so wie er so schön in Deutschland gefeiert wird, als einen
Tag angesehen, an dem man suchen sollte, auch die Armen zu erfreuen. Das kleine
Unternehmen gelang immer besser. Bald wollten alle jungen Mädchen der
Gesellschaft aufgenommen sein. Die Menge der Arbeit, die man mit so
bescheidenen Mitteln anfertigte, war wirklich nicht unbedeutend. Unter den
jungen Mädchen, welche der Gesellschaft beitraten, waren auch die zwei
Schwestern des jungen Apostels. Ich
kannte die ältere; sie war schön und gut, aber sie hatte mich nie sehr
interessiert. Die zweite trat nur eben erst in den Kreis der Erwachsenen ein.
Sie war viel jünger wie ich, und ich hatte sie nur als ein Kind gekannt. Jetzt,
durch die unerklärliche Anziehungskraft, welche über die Geschicke der Menschen
entscheidet, zu einander hingezogen, näherten wir uns einander von Anfang an,
und bald entstand zwischen uns, zum Erstaunen der ganzen Gesellschaft, eine
wirkliche Herzensfreundschaft. Man liebte meine junge Freundin dort nicht so
wie ihre Schwester, welche ein allgemein gefälliges Wesen hatte. Man fand die
jüngere affektiert und extravagant, weil sei, mit siebzehn Jahren, die ernsten
Gespräche dem frivolen Geschwätz vorzog, und sich dann frei hingab, wenn sie
durch das Interesse am Gespräch hingerissen wurde. Dagegen bleib sie verlegen,
stumm, linkisch in den gewöhnlichen geselligen Beziehungen. Ich verstand sie
darin nur zu wohl, und ich sah mit Entzücken ihre reiche Natur vor mir sich in
mannigfaltigster Weise offenbaren. In kurzer Zeit war ich mit ihr viel intimer
wie mit den andern. Sie sprach mir oft von ihrem Bruder, den sie
leidenschaftlich liebte; er war ihr alles, ihre Liebe für ihn war ein wahrer
Kultus. Ich hörte ihr mit tiefem Anteil zu, und das Bild des jungen Apostels
wurde mir dadurch noch teurer. Man erwartete ihn in der Familie im Frühjahr bei
seiner Rückkehr von der universität. Die Schwester bebte vor Wonne, wenn sie
daran achte, denn er sollte lange bleiben, um sein Examen als Kandidat der
Theologie zu machen.
Ich erwartete ihn auch mit Freude; ich
wusste, dass er mir neues Licht mitbringen würde, und ausserdem war er der
angebetete Bruder von der, die jetzt in meinem Herzen herrschte.
Als er endlich angekommen war, erhielten
meine Schwester und ich eine Einladung von seinen Schwestern, den Abend da zuzubringen.
Kaum waren wir dort angelangt, als die Tür sich öffnete und der Bruder eintrat.
Er setzte sich neben mich, und das Gespräch wurde sofort sehr belebt. Es war
sonderbar, wie unsere Ansichten in allen wichtigsten Punkten zusammentragen.
Wir sagen uns mit Erstaunen an, denn es schien, als ob das Wort des einen immer
aus den Gedanken des andern komme. Als wir gingen, blieb er in der Mitte des
Zimmers stehen und sah mich wie im Traume an, als ich ihm Lebewohl sagte.
Einige Tage darauf wurden, auf meine Bitte,
seine Schwestern und er zu uns gebeten. Ich war auch da schon wieder unter dem
Einfluss jenes innern Zwanges, der mir so viele Stunden meines Lebens verdorben
hat – dieser sonderbaren Unmöglichkeit, frei mein Herz zu öffnen, wo es sich am
liebsten frei gegeben hätte. Doch hatte ich zuletzt noch einen Augenblick lang
allein mit ihm ein Gespräch, dessen Gegenstand die zweite Schwester war, die er
nur die „Kleine“ nannte. Die Liebe, die wir beide für sie hatten, machte mich
beredt. Indem ich meiner Liebe für sie Ausdruck gab, fühlte ich, dass der
Bruder fortan der dritte sein würde in diesem Bunde, welcher bereits einen Teil
meines Lebens ausmachte.
Meine Mutter und Schwestern beschlossen zum
Abendmahl zu gehen. Es war dies nur zwei oder drei Mal dr Fall gewesen seit
jenem Tag der Qual, und ich war immer noch nicht ruhig in diesem Punkt. Dieses
Mal beschloss ich zu einer Lösung zu kommen. Ich wandte mich an meinen früheren
Lehrer, dem ich mich wieder genähert hatte durch die Freundschaft mit seiner
jüngeren Tochter. Ich schrieb ihm einen Brief, in welchem ich ihm ohne Rückhalt
meine Zweifel und Bedenken auseinandersetzte. Ich bekannte, dass ich das
Geheimnis der Gnade nie dabei erfahren hätte, und dass ich schliesslich beinahe
zu der Ansicht gekommen sei, dass diese Zeremonie wohl nur als ein Symbol der
grossen Brüdergemeinschaft angesehen werden müsse, zu welcher Christus die
Menschen führen wollte und für deren Verwirklichung er den Tod am Kreuze starb.
Ich bat ihn, mir eine Stunde zu bestimmen, in welcher wir diesen Gegenstand
mündlich besprechen könnten. Er bewilligte mir dieselbe und war liebenswürdig
wie immer, machte mir keinen Vorwurf über das, was ich ihm bekannte, gab mir
aber auch keine positive Ansicht über den Gegenstand. Ich fing an zu vermuten,
das er selbst keine habe. Endlich wendete er das Gespräch auf andere Dinge und
erzählte mir u. a., dass sein Sohn beinahe immer zu Hause sei, weil ihn die
Gesellschaft seiner früheren Schulkameraden, die ihr halbes Leben auf der
Ressource, bei Billard und Karten verbrächten, zu sehr langweile.
„Er hat vollkommen recht“, sagte ich.
„Vielleicht ja“, erwiderte der Vater, „aber
auf diese Weise wird er bald genug isoliert sein. Sie werden ihn hassen, weil
er besser sein will, wie sie.“
„Nun, in diesem Fall ist es besser, allein
und gehasst zu sein.“
Einige Tage nachher kam meine Mutter mit
einem Brief in der Hand und sagte: „Bereite dich vor auf ein grosses Glück.“
Der Brief kam von meinem Vater und kündigte mir an, dass meine Schwägerin, die
Frau meines ältesten Bruders, den Winter ihrer Gesundheit wegen im Süden
zubringen müsse und da mein Bruder sie nicht begleiten könne, mich zur
Gesellschaft wünsche. Mein Vater hatte es bewilligt. Ich leibte diese
Schwägerin leidenschaftlich, und obgleich sie und mein Bruder meist fern von
uns lebten, so war doch auch ich ihr besonders wert. Sie wollte den Winter in
der Provence zubringen und dann durch das nördliche Italien zurückkehren. Nach
dem Süden gehen, nach Italien! Seit meiner Kindheit war Italien as Land meiner
Träume, das Land der Wunder, zu welchem meine Wünsche in ihrem kühnsten Fluge
hineilten. Ich war noch ganz klein, als ein teurer Hausfreund, ein geistvoller
Künstler, der lange in Italien gelebt hatte, die Wunder jenes Landes in Bild
und Wort in unserem Hause gleichsam lebendig mache; meine Phantasie war davon
erfüllt. Zugleich kannte ich den Namen Goethe durch meine Mutter als den des
allerverehrungswürdigsten Menschen unter allen, die lebten. Da hatte sich denn
in meiner kindlichen Phantasie ein Traumbild entsponnen, das mehrere Jahre
meiner Kindheit durch fortlebte, ohne dass ich es jemals jemand mitgeteilt
hätte. Ich dachte mir, irgend ein gütiges Verhängnis müsse es so fügen, dass
ich eine Reise nach Italien machen über Weimar zurückkehren und zu den Füssen
Goethes sitzen könne, von dem ich mir dachte, er müsse aussehen wie einer der
Weisen aus dem Morgenland. Als ich hörte, dass Goethe gestorben sei, ging es
mir wie ein bittrer Schmerz durch das Herz; ich konnte es lange nicht
überwinden, dass auch so ein Grosser sterblich und dass die Verwirklichung
meines Traumes nun unmöglich sei. Jetzt sollte der kindliche Traum zur Hälfte
doch Wahrheit werden. Meine Seele sollte ihre Flügel entfalten und ihren Flug
in das unbekannte Land der Sehnsucht nehmen, das mir wie mein wahres Vaterland
erschien. Es schien zu schön, um wahr zu sein, und es war doch so. Ich war
still, wie immer in den ergreifendsten Augenblicken meines Lebens. Aber es war
mir, als ob das Ideal, nach dem mein Leben eine beständige Wallfahr war, mich
dort erwarte, in jeder Ferne, und mir eine Krone über meinem Haupt in den
Wolken zeige.
Das einzig Peinliche dabei war mir, dieses
Glück meiner Schwester zu verkünden, der treuen Gefährtin meines bisherigen
Lebens, mit der ich bis dahin alles, Gutes und Böses, geteilt hatte. Sie
empfing die Nachricht jedoch mit der liebenswürdigsten Hingebung und mit
stiller Resignation, wie es in ihrer Natur lag, und half mir mit der gütigsten
Bereitwilligkeit die Vorbereitungen zur Reise machen. Während der Beschäftigung
damit fühlte ich auch, neen dem grossen Glück, ein tiefes Bedauern, zu gehen.
Ich sah es wieder in besonderer Weise ei dieser Gelegenheit, wie sehr ich in
unserer Familie und in unserem ganzen Kreise geliebt wurde. Meine Reise erregte
allgemeine Sympathie. Zwei Tage vor meiner Abreise verbrachten die „Kleine und
ihr Bruder den Abend bei uns. Sie freuten sich für mich, aber sie bedauerten
auch mein Scheiden und hätten mit mir ziehen mögen.
Der Moment des Scheidens kam endlich. Ich
musste sehr früh am Morgen mit dem Postwagen abfahren, denn Eisenbahnen gab es
damals in jenen Gegenden noch nicht. Meine Mutter schleif, ich wollte sie nicht
wecken, um ihr die Erregung des Abschieds zu ersparen, denn sie entließ mich
doch mit schwerem Herzen für so lange und so weit; eine Reise nach Italien
[allerdings ging die Reise nach Hyères in der Provence] war damals noch ein
bedenkliches Unternehmen Ich nahm einen stummen Abschied, unter heißen
Segenswünschen, vor ihrem Bett und begab mich zur Post, begleitet von meiner
treuen Schwester [Laura]. Dort fanden wir die „Kleine“ [Elisabeth Althaus] und
ihren Bruder. Ich umarmte die Kleine noch einmal, gab dem Bruder noch einmal
die Hand. Er gab mir einen Blumenstauß, an dem ein Brief angebunden war, der
anstatt der Adresse diese Worte Tassos enthielt: „I suoi pensieri in lui dormir
non ponno“ [Seine Gedanken lassen ihn keinen Schlaf finden]. Ich stieg in den
Wagen, hielt den Strauß und den Brief in meiner Hand und fühlte mich wie
gesegnet von einer guten Gottheit. Nach einigen Stunden hielt der Postwagen in
einem kleinen Ort, wo die Reisenden zu Mittag aßen. Ich ging statt dessen in
den Garten des Posthofs und öffnete meinen Brief. Es waren Verse: ein
Abschiedssonett und ein längeres Gedicht, welches er nach einem unserer letzten
Gespräche und einem darauf folgenden Spaziergang und prächtigen Sonnenuntergang
gedichtet hatte. Es war eine Vision, die vor seinem Geist die strengen Denker
des Nordens hatte vorüberziehen lassen, deren Sehnen, aus ihren schweren
Kämpfen heraus, sie immer nach dem Süden, dem Symbol der Harmonie und die vollendeten Schönheit,
gezogen habe, ganz besonders in Deutschland, wo diese Sehnsucht sich in jeder
tiefen, strebenden Natur wiederhole. Auf ihrem Zuge dorthin redete er zunächst
die Alpen an, deren Spitzen im Sonnenschein glühten:
„Ihr Alpen seid gegrüßt, ihr ew’gen Mauern,
Die unsrer Erde Paradies beschützen;
Ihr Niegeseh’nen füllt mit heil’gen Schauern
Ein Herz, das Schnee und Wolken möchte
fragen
Und Antwort lesen möchte’ im Sturm und
Blitzen.“
Am Ende sprach er davon, wie auch die besten Sterne seines eignen Lebens
ihm den Weg nach Süden gezeigt hätten, selbst der letzte, der kaum aufgegangen,
schon weiter ziehe, um dort unten zu leuchten.
„Doch flüstert sie mir zu: Ich ziehe gern.
Ja, du hast recht, den Winter lass dem
Norden,
Mich lass mit Wort und Tat den Süd
verdienen.“
Das Meer von stillem Glück, das in mir zurückblieb, als ich gelesen
hatte, lässt sich nicht mit Worten beschrieben. Es war der Friede inmitten der
Erregung, die Freude ohne Flecken, ohne heftigen Wunsch – ein Frühlingsmorgen,
wo alles Duft ist und Harmonie und Hoffnung auf den Sommer, der folgen soll.
In der Stadt angekommen, wo ich und eine Dame, mit der ich reiste, die
Nacht zubringen sollten, schrieb ich ihm eine Antwort, auch in Versen, welche
ich seiner Schwester zuschickte, um sie ihm zu übergeben.
Auszug aus „Memoiren einer Idealistin“, Volksausgabe, Schuster und Löffler, Berlin und Leipzig, 3. Auflage Dezember 1881 (S. 117-130)
Bildquelle: Theodor Althaus 1843, Bleistiftzeichnung von Malwida
von Meysenbug
„Erinnerung an die Tage vom 26t bis zum 30t November 1843“
Staatsarchiv Detmold D 75 Nr. 7567